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Tief unter den beiden lagen die Gebeine des Unbekannten Soldaten. Der Alte und die Jungen reichten sich über das Grab hinweg die Blicke. Es war ein stilles Einverständnis zwischen ihnen. Es war, als schlössen sie einen Pakt, den toten Soldaten nicht gemeinsam zu beklagen, sondern gemeinsam zu vergessen.

      Tunda war schon einigemal an diesem Denkmal vorübergegangen. Immer umstanden es Touristen, die Reisehüte in der Hand – und nichts kränkte ihn mehr als ihre Ehrenbezeugung. Es war, wie wenn Weltenbummler, die auch noch fromm sind, während eines Gottesdienstes eine berühmte Kirche besichtigen und, den Reiseführer in der Hand, vor einem Altar niederknien, aus Gewohnheit und um sich nichts vorwerfen zu müssen. Ihre Andacht ist eine Lästerung und ein Lösegeld für ihr Gewissen. Nicht dem toten Soldaten zu Ehren, sondern den Überlebenden zur Beruhigung brannte das blaue Flämmchen unter dem Arc de Triomphe. Nichts war grausamer als die ahnungslose Andacht eines überlebenden Vaters am Grabe seines Sohnes, den er geopfert hatte, ohne es zu wissen. Manchmal war es Tunda, als läge er selbst dort unten, als lägen wir alle dort unten, die wir aus einer Heimat auszogen, fielen, begraben wurden oder auch zurückkehrten, aber nicht mehr heimkehrten – denn es ist gleichgültig, ob wir begraben oder gesund sind. Wir sind fremd in dieser Welt, wir kommen aus dem Schattenreich.

      Nach einigen Tagen ließ ihn der Herr Präsident kommen.

      Zwischen beiden war nunmehr die Distanz, die zwischen dem Helfer und dem Hilflosen besteht, eine andere Distanz als die zwischen dem Älteren und dem Jüngeren, dem Heimischen und dem Fremden, dem Mächtigen und dem zwar Schwachen, aber Selbständigen. In den Blicken des Präsidenten lag zwar keine Geringschätzung, aber auch nicht mehr jene stille Bereitschaft zur Hochachtung, die noble Menschen für jeden Fremden übrig haben, die Gastfreundschaft der Vorurteilslosigkeit. Vielleicht war Tunda sogar seinem Herzen nähergekommen. Aber sie waren nicht mehr gleich Freie. Vielleicht hätte der Alte von nun an sogar eines seiner Geheimnisse Tunda anvertraut; aber nicht mehr eine seiner Töchter.

      »Ich habe etwas gefunden«, sagte der Präsident. »Da ist der Herr Cardillac, dessen Tochter eine Reise nach Deutschland unternimmt und die ein wenig Konversation braucht. Man sucht ja gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten ältere Damen auf, die aus dem Elsaß stammen. Aber ich bin prinzipiell gegen diese Art Lehrerinnen, weil sie zwar die Sprache beherrschen, aber ein ganz anderes Gebiet der Sprache – nicht dasjenige, das eine junge Dame aus reichem Hause nötig hat. Es fehlt diesen Lehrerinnen an den nötigen Vokabeln. Dagegen dachte ich, daß ein junger Mann von guter Erziehung, von Welt, von Kenntnissen, von allerhand Erfahrung« (die Zahl der Tugenden Tundas wuchs zusehends) »gerade die richtige und notwendige Sprache führt. Es wird sich darum handeln, der jungen Dame auch von den Zuständen des Landes zu erzählen, in das sie jetzt fährt, ohne Kritik natürlich und ohne in ihr Vorurteile zu erwecken. Diese Vorurteile wären um so schlimmer, als Herr Cardillac, der, unter uns gesagt, gar nicht so heißt, Verwandte, entfernte Verwandte allerdings, in Deutschland besitzt, in Dresden und Leipzig, wenn ich nicht irre.«

      Als bedürfte ein Präsident, der sich für den europäischen Frieden einsetzte, Hochachtung für Deutschland bezeugte, als bedürfte ein solcher Präsident der Erklärung dafür, daß er einen Herrn Cardillac kenne, der deutsche Verwandte besitzt, sagte der alte Herr:

      »Herrn Cardillac kenne ich nicht genau, er selbst ist mir vor einigen Jahren empfohlen worden, von einer alten Mailänder Familie, die weltbekannte Kachelöfen und weitverbreitete Nippesgegenstände erzeugt. Herr Cardillac ist ein wohlsituierter Mann, er beschäftigt sich, glaube ich, mit Kunsthandel, seine Beziehungen sind zwar mehr geschäftlicher als gesellschaftlicher Natur, aber Sie wissen ja, mein lieber Herr« (er sagte wieder: mein lieber Herr), »wie nach dem Krieg geschäftlich und gesellschaftlich identische Begriffe geworden sind –« Und der Herr Präsident versank für einige Augenblicke in Schweigen, in eine Erholungspause, um sich von dem Schock, den er sich durch die Feststellung der Identität von gesellschaftlich und geschäftlich selbst zugefügt hatte, zu kurieren.

      Er wollte zwar den Frieden unter den Nationen, aber er verstand darunter den Frieden einiger gesellschaftlicher Schichten, er hatte zwar keine Vorurteile, er kam sich wie der fortschrittlichste Mensch der gebildeten Welt vor, aber die Kategorien, die er sich geschaffen hatte, lagen festgegründet gerade auf den Vorurteilen, die er ablehnte. Mit denen, die man »Reaktionäre« nennt, hatte der Präsident die Fundamente gemein, nur war sein Haus luftiger, es hatte mehr Fenster, mußte aber in dem Augenblick zusammenbrechen, in dem man das Fundament anrührte. Gewiß schämte er sich seiner Bekanntschaft mit Herrn Cardillac. Daß er von diesem Herrn sprechen mußte, war ihm unangenehm. Vielleicht wäre es ihm ebenso leichtgefallen, Tunda einem andern und höher gestellten Fräulein zu empfehlen. Aber so hoch stand Tunda nicht mehr in seinen Augen, seitdem er ihn um Hilfe gebeten hatte.

      XXXI

       Inhaltsverzeichnis

      So kam Tunda in das Haus des Herrn Cardillac.

      Er hatte nie ein größeres Haus gesehen. Es erschien ihm noch geräumiger, als es war, weil er es nicht ganz kennenlernte, weil er immer wieder nur Teile, Bruchstücke des Hauses zu sehen bekam, er kannte dieses so wenig, wie man ein Lexikon kennt, aus dem man nur von Zeit zu Zeit einen bestimmten Band herausgreift, um ein bestimmtes Wort zu suchen.

      Am stärksten interessierte ihn Fräulein Pauline, mit der er Konversation zu führen hatte. Achtzehnjährig, braun, von dem Teint, den man vom Balkan her kennt – Herr Cardillac kam aus dem südlichen Rumänien –, dem Teint, der an die Farbe von Meteorsteinen erinnert und aus Eisen, Wind und Sonne zu bestehen scheint, mit abfallenden, schmalen, ärmlichen und mitleiderweckenden Schultern, mit weichen und sanften Hüften, denen einmal eine gefährliche, entstellende Breite drohte – erschien Pauline würdig eines besseren Vaters, als es der ihrige war, und eines reicheren, satteren Lebens, als sie führte. Es war eine der verhängnisvollen Neigungen Tundas, mit den hübschen Frauen Mitleid zu haben. Ihre Schönheit schien ihm nur der berechtigte Lohn für ihren Wert zu sein, er konnte sich nicht daran gewöhnen, zu denken, daß die Schönheit eines weiblichen Körpers kein Überfluß, keine Gnade, kein Luxus ist, etwa wie das Genie eines männlichen Geistes, sondern das selbstverständliche Werkzeug ihrer Existenz, wie ihre Gliedmaßen, ihr Kopf, ihre Augen. Ihre Schönheit ist das einfache, ja, das primäre Abzeichen einer Frau, wie die Brust ein Organ ihrer Geschlechtlichkeit und ihrer Mütterlichkeit. Die meisten Frauen sind schön – ebenso wie die meisten Menschen keine Krüppel sind. Tunda aber verblüffte jede Schönheit in dem Maße, daß er eine Erklärung für sie in einem nicht genügend gewürdigten Verdienst ihrer Trägerin zu suchen geneigt war. Am Anfang seiner Liebe stand immer das Mitleid – neben dem Zwang, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen.

      Zuerst also überschätzte er Pauline. Es bereitete ihm ein Vergnügen, zu sehen, wie sie ins Zimmer trat, in dem er sie erwartete, wie sie einen Augenblick lang einen Spalt der Tür offen ließ, die in ihr Zimmer führte und das mit unbeschreiblichen, gestaltlosen, rein atmosphärischen Kostbarkeiten gefüllt zu sein schien. Es freute ihn, zu sehen, wie sie mit graziöser Hilflosigkeit den Arm hinter den Rücken steckte, um die Tür, deren Klinke sich in der Höhe ihres Kopfes befand, zu schließen – sie tat es wie etwas Verborgenes, Gefährliches und nur ihnen beiden Bewußtes, so, daß es jedesmal einen Augenblick aussah, als hätten sie hier eine verbotene Zusammenkunft. Ihre dünnen Hände, die kaum etwas zu halten wagten, waren kühl, von einer zarten, nur zögernd verblassenden Röte, die ständig an die jüngst verflossenen Backfischjahre Paulines erinnerte. Sie gebrauchte diese Hände vorsichtig, als wären es geliehene kostbare Gliedmaßen; ungefähr wie junge Vögel ihre Flügel, so empfand Pauline ihre Hände. Sie streckte den Arm zu weit aus, oder sie hielt den Ellenbogen zu ängstlich an die Brust gepreßt, sie hatte noch nicht Übung im Abschätzen der Distanzen. Es gefiel Tunda die Viertelbogenrundung am Profil des gesenkten Kinns und der weiße, weiche Flaum, der über dem ganzen braunroten Angesicht gebreitet war, eine Art silbernes Moos der Jugend und der Schönheit.

      Dennoch wußte er immer, daß dieses Mädchen, so jung und klein es auch noch war, ebenso wie die Großen aus einer Welt kam, die er verachtete und die ihre Schönheit nicht verdiente. Von welchen Menschen kam


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