Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот

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Gesammelte Werke von Joseph Roth - Йозеф Рот


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putzte er weiter ausführlich den Hahn der Wasserleitung, warf die Seife in die Luft wie einen Ball und fing sie wieder auf, lächelte und sagte:

      »Eine hübsche kleine junge Dame.«

      »Und Sie allein haben mit ihr gesprochen?«

      »Ja, ich ganz allein.«

      »Und warum haben Sie es gestern nicht gesagt?«

      »Gestern abend war ich frei. Ich bin spazierengegangen.«

      »Hier haben Sie ein Trinkgeld. Und wenn sie noch einmal kommt, sagen Sie es mir, bevor Sie spazierengehen.«

      Er warf das Geldstück in die Luft, wie vorhin die Seife, sagte: »Entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe«, und ging.

      Dann kam ein langer Sonnabend, der Diener brachte neue Bettwäsche und Handtücher, er streichelte sie, bevor er sie auf eine Sessellehne hängte, und wandte sich zum Gehen. Er hielt die Klinke einen Moment in der Hand, zögerte, als hätte er noch etwas Wichtiges, aber Peinliches zu sagen.

      Schließlich sprach er, schon halb in der Tür:

      »Es ist niemand dagewesen.«

      Tunda erwachte am hellen Sonntagmorgen.

      Der Himmel war ganz nahe über dem Fenster, weiße Wölkchen wehten, es war unbestreitbar Mai in der Welt.

      Es klopfte an der Tür, und der Diener sagte:

      »Jemand will Sie sprechen –«

      Frau G. trat ein.

      Sie streifte langsam einen Handschuh ab, er fiel auf die Bettdecke, leicht, von einem zärtlichen Wind hingelegt. Da lag er, hohl, schlaff, aber wie ein weiches, lebendiges, merkwürdiges Tier.

      »Nun, mein Freund«, sagte sie, »sind Sie gekommen, mich zu sehen oder die Revolution vorzubereiten?«

      »Sie zu sehen! Glauben Sie mir immer noch nicht? Es ist alles wahr, was ich Ihnen geschrieben habe. Ich schwöre es!«

      Tunda holte seine Papiere herbei, als wäre sie von der Polizei, als gälte es, seine Freiheit zu retten.

      Sie setzte sich aufs Bett – und das war wie ein Wunder. Sie kraute mit drei Fingern die Papiere, sah sie mit Verachtung an und zog die Photographie Irenes sofort hervor.

      »Wer ist diese schöne Frau?«

      »Sie war meine Braut.«

      »Und sie ist tot?« fragte sie mit einer ruhigen Stimme, es gab nichts Einfacheres in der Welt als den Tod Irenes. Nicht nur Irene, alle Frauen waren tot, begraben.

      »Ich glaube, daß sie noch lebt«, sagte Tunda schüchtern, als bäte er um Entschuldigung.

      Er küßte ihre Hand, sie steckte mit der Linken eine Zigarette in den Mund, und er sprang auf, um Streichhölzer zu holen.

      Es schien plötzlich in der ganzen Welt nichts Wichtigeres zu geben als diese Streichhölzer. Das Streichholz brannte, ein kleines blaues Freudenfeuer.

      »Auf Wiedersehen!« sagte sie, sah ihn aber nicht an, sondern die Photographie Irenes, die noch auf dem Bett lag.

      Der Himmel war immer noch blau.

      XXV

       Inhaltsverzeichnis

      Tunda hatte ein paar Empfehlungen – von seinem Bruder und von Bekannten. Er machte Besuche.

      Es waren Besuche höchst langweiliger Art. Es waren gelehrte und halbgelehrte Männer, würdig, aber von einer durch witzige Veranlagung gemilderten Würde. Es waren Männer mit glatten alten und gut erhaltenen Gesichtern und sorgfältig gebürsteten, grauen Bärten, in denen man noch die Zähne der Kämme sehen konnte. Diese Männer bekleideten öffentliche Stellungen, sie waren Professoren oder Schriftsteller oder Präsidenten humanitärer und sogenannter kultureller Vereine. Sie hatten seit dreißig Jahren wenig anderes mehr zu tun gehabt, als zu repräsentieren. Von ihren deutschen Kollegen unterschieden sie sich durch bestimmte, runde, vollkommene Bewegungen und eine Politesse des Redens.

      Tunda lernte den Präsidenten Marcel de K. kennen. Er bewohnte eine Villa in einem Vorort von Paris, den er nur zwei-oder dreimal im Jahre verließ, um besonderen, festlichen Sitzungen der Akademie beizuwohnen.

      Er versichterte Tunda, daß er Deutschland liebe.

      »Herr Präsident«, sagte Tunda, »Sie tun mir eine große Ehre an, indem Sie mich, einen Privatmann, Ihrer wertvollen Liebe zu Deutschland versichern. Aber ich bin beinahe nicht befugt, diese Ihre freundliche Versicherung entgegenzunehmen. Ich habe kein öffentliches Amt, nicht einmal ein privates. Ich wäre sogar in Verlegenheit, wenn ich Ihnen sagen müßte, was mein Beruf ist. Ich bin vor nicht langer Zeit aus Rußland zurückgekommen, habe mich kaum in Deutschland umgesehen und war zwei Wochen in Berlin. Etwas länger lebte ich bei meinem Bruder in der Stadt X. am Rhein. Ich habe nicht einmal Zeit gefunden, mich in meiner Heimat, in Österreich, zurechtzufinden.«

      Er hatte den alten ehrwürdigen Herrn in eine gewisse Verlegenheit gebracht. Deshalb sagte er: »Ich könnte Ihnen noch am meisten von Sibirien erzählen, wenn es Sie interessiert.«

      Sie sprachen von Rußland. Der Präsident hatte die Vorstellung, daß in Petersburg immer noch geschossen wird.

      Tunda erlebte bei diesem Präsidenten einen delikaten Geschmack, der ihm jede Ahnungslosigkeit erlaubte. Er hatte das Recht, gar nichts zu wissen. Frankreich gab ihm alles, was er brauchte: Berge, Meer, Geheimnis, Klarheit, Natur, Kunst, Wissenschaft, Revolution, Religion, Geschichte, Freude, Anmut und Tragik, Schönheit, Witz, Satire, Aufklärung und Reaktion.

      Tunda betrachtete den alten Herrn mit dem reinen Vergnügen, das manche Menschen auf einem Spaziergang in einem gepflegten Garten empfinden. Er sah sein altes gleichmäßiges Gesicht, an dem der Kummer mit Vorsicht gearbeitet hatte, die Enttäuschungen lagen in ihren vorbestimmten Falten, die kleinen Freuden des Lebens hatten einen schönen klaren Glanz in den Augen hinterlassen, um den schmalen, scharfen und weiten Mund war der Bart gebreitet wie eine silberne Ruhe, auf dem Kopf waren nur so viel Haare ausgegangen, wieviel nötig sind, eine schöne, kluge, repräsentative Stirn entstehen zu lassen. Welch ein Greis! Keiner konnte mit größerer Berechtigung Herr Präsident heißen als er.

      Tunda hatte die Gewohnheit angenommen, der Schönheit zu mißtrauen. Deshalb glaubte er in der ersten Zeit dem Präsidenten kein Wort, auch nicht das gleichgültigste. Wenn er zum Beispiel erzählte, daß er vor zwanzig Jahren in der Kammer diesen oder jenen Minister beiseite gerufen hatte, um ihm unter vier Augen die Wahrheit zu sagen, so hielt es Tunda für eine Übertreibung, die das Alter entschuldigt. Denn die Wahrheiten, die der Herr de K. zu sagen hatte, konnten auch ohne Furcht vor eventuellen Folgen in der Öffentlichkeit gesagt werden.

      Nachdem er aber den freundlichen Herrn drei-und viermal gesprochen hatte, begann er zu ahnen, daß der Alte keineswegs übertrieb. Nicht die Tatsachen übertrieb er, sondern den Grad und die Gefahren seiner Aufrichtigkeit. Das, was er mit einem gewissen Schauder die Wahrheit nannte, war ein gleichgültiger, fast ein lächerlicher Teil der Wahrheit. Er übertrieb wirklich nicht mit Wissen. Wenn er ein allgemeines, oft wiederholtes, zur Banalität entwürdigtes Wort über Deutschland sagte, so war es in seinem Mund keine gedankenlose Wiederholung, sondern etwas wie eine höfliche Entdeckung. Er machte immer wieder längst erledigte Erfahrungen. Wenn er väterlich sagte: »Ich schätze Ihre Gesellschaft, lieber junger Herr«, so mußte sich Tunda wirklich ausgezeichnet fühlen. In diesem bedächtigen Munde, infolge der langsamen Bewegungen der Zunge, bekam jede Phrase ihre alte ursprüngliche Bedeutung. Und es war selbstverständlich, daß der alte Herr einen Minister unter vier Augen sprechen mußte, um ihm etwa zu sagen:

      »Ich habe den doppelten Sinn Ihrer Rede wohl gemerkt.«

      Tunda sah bei diesem Herrn, worin ein wichtiger Teil der Vornehmheit besteht: nämlich in der Furcht vor der Übertreibung (schon die ungeschminkte Wahrheit


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