Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот

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Gesammelte Werke von Joseph Roth - Йозеф Рот


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niemals auf die Straße.«

      »Warum nicht? Es interessiert dich nicht? Paßt es dir nicht, weil du ein Priester der Kunst bist, dich unter das Volk zu mischen? Bist du zufrieden zwischen deinen Weihbecken und Bildern und deiner alten Kultur? Erfährst du alles nur aus den Zeitungen?«

      »Ich lese keine Zeitungen!« lächelte der Kapellmeister. »Ich lese nur musikalische Angelegenheiten.«

      »Da wußte ich sogar in der Kadettenschule mehr von der Welt als du!« sagte Franz. »Übrigens haben wir ein ganzes Leben nichts miteinander geredet. Jetzt haben wir nichts Besseres zu tun als Politik zu besprechen, als hätten wir uns in einem Coupé getroffen.«

      »Du bist also nicht einmal im Schlafwagen gefahren!« rief der Kapellmeister erschüttert.

      Sie hatten nichts miteinander zu reden, wenn sie die Dinge der Allgemeinheit außer acht ließen, wie sich bald darauf erwies.

      Selbst dem konzilianten Kapellmeister fiel gar nichts ein.

      Endlich entschloß er sich zu fragen:

      »Hast du was von Irene gehört?«

      »Sie soll geheiratet haben«, sagte Franz.

      »Ich habe gehört, daß sie in Paris lebt«, sagte Georg.

      Dann gingen sie schlafen.

      XXI

       Inhaltsverzeichnis

      Manchmal fuhr der Kapellmeister in die nächste kleinere oder größere Stadt am Rhein, blieb einige Tage fort und kam blaß und erholungsbedürftig zurück.

      »Er muß Klimawechsel haben, der arme Georg«, sagte Klara.

      »Ich brauche Entspannung«, sagte der Kapellmeister.

      Er fuhr, wie sich bald herausstellte, zu Liebeszwecken. Er erinnert an einen Vogel, der von Ast zu Ast hüpft und überall ein Liedchen schmettert. Die jungen Mädchen in den alten Kulturzentren verehren neben Boxern und Turnlehrern auch die Priester der Kunst. Dadurch unterschieden sie sich von ihren Schwestern in den größeren Städten, in denen die Barbarei heimisch ist.

      Die Ehe des Kapellmeisters glich einem stillen See mit ständiger kühler Brise. Das Kind schwamm vergnügt zwischen Vater und Mutter, wie zwischen zwei Häfen. Es wurde niemals krank, es bekam nicht einmal Keuchhusten. Es weinte nicht. Es hatte keine Launen. Es hatte die ruhige, rauschfreie Milch seiner Mutter eingesogen und dementsprechend seinen Charakter gebildet. Es war ein Muster von einem kleinen Mädchen. Es spielte mit Puppen aus Schwämmen, mit denen es gleichzeitig gewaschen werden konnte. Es sagte Papa und Mama und nannte alle Menschen mit gleichmäßiger Freundlichkeit Tante und Onkel.

      Man aß im Hause des Kapellmeisters viel Gemüse und Eier, Rahm und Früchte und manche Süßspeisen, die nach Papier schmeckten. Man trank bekömmliche Tischweine und erhob sich von den Mahlzeiten leicht wie ein Luftballon. Dennoch schlief der Kapellmeister nach dem Essen, er legte sich auf sein Sofa, aber es schien, als schliefe er nicht, als hätte er sich nur zurückgezogen, um allein mit seiner persönlichen Kultur zu sein.

      Man empfing und machte Besuche.

      Innerhalb der Stadt, die selbst ein Kulturzentrum war, gab es noch Häuser, die kleinere Kulturzentren waren. Es gab Künstler, die in Ateliers wohnten und die Bohème darstellten. Es gab einen Rechtsanwalt, der zu den jüdischen Festtagen die christlichen Mitbürger einlud und so wenigstens in den höheren Sphären den konfessionellen Frieden herstellte. Es gab einen christlichen Zeichner, der von jüdischen Ornamenten lebte und gegen angemessene Honorare die Stammbäume aller alten rheinischen Familien herstellte. Es gab einen Briefmarkensammler, der alle paar Wochen Ausstellungen seiner besten Markenexemplare veranstaltete, verbunden mit Festen, bei denen hie und da eine Ehe zustande kam. Es gab Nachfahren alter Dichter von der Zweiten romantischen Schule, bei denen man interessante, unveröffentlichte Briefe einsehen konnte. Es gab einen lebendigen Lyriker von Ruf, der ein Stübchen in einem Museum bewohnte, und einen alten Professor, der den ganzen Tag auf einem Kirchturm saß und das berühmte Glockenspiel verursachte, das im Baedeker erwähnt wird. Es gab einen alten Friedhof, auf dem die Schüler der Zeichenakademie ganze Vormittage zubrachten, um die malerischen Grabsteine in Skizzenbüchern festzuhalten. Es gab ein paar alte historische Brunnen, die der Magistrat eines Tages gesammelt und zu einer einzigen Gruppe im Stadtpark vereint hatte, der Bequemlichkeit halber und weil in diesem Park schon ohnehin ein Kriegerdenkmal im Jahre 1920 errichtet worden war und seit dem Jahre 1872 eine Bismarck-Eiche, von Stacheldraht umgeben, durch die Sommer rauschte. Außerdem gab es viele Inhaber von Fahrrädern, welche die Automobile des kleinen Mannes genannt werden.

      Das Ansehen, das der Kapellmeister genoß, übertrug sich schließlich auch auf Franz, der nur gelegentlich einiger Besuche von Sibirien erzählen mußte. Er fügte zu den fünfzig Quartseiten noch weitere dreißig. Er hatte schon eine Menge Abenteuer erfunden, es war ihm ein leichtes, ein berühmter Sibirienforscher zu werden.

      »Meine vollkommene Untätigkeit«, schrieb er in sein Tagebuch, »bedrückt mich in dieser Stadt gar nicht. Und wenn ich hier noch weniger arbeiten würde, ich käme mir sehr nützlich vor.

      Es gibt keinen arbeitenden Menschen unter den Leuten, die ich sehe, es seien denn die Fabrikanten, nicht einmal die Geschäftsleute arbeiten. Es kommt mir vor, daß die Menschen mit den Füßen noch auf der Erde stehen, ihr ganzer Unterleib ist irdisch, aber von den Händen aufwärts leben sie nicht mehr in irdischen Luftschichten. Jeder besteht aus zwei Hälften. Eines jeden obere Hälfte schämt sich der unteren. Jeder hält seine Hände für bessere Gliedmaßen als seine Füße. Sie haben zwei Leben. Ihr Essen und Trinken und Lieben vollziehen die unteren, die minderwertigen Partien, ihren Beruf die oberen.

      Wenn Georg dirigiert, so ist er ein anderer Georg als jener, der mit seinen kleinen Anbeterinnen schläft. Gestern erzählte mir eine Dame, sie wäre im Kino gewesen und wenig hätte gefehlt, und sie hätte ihr Gesicht verhüllt. Sie ging ins Kino nur mit der unteren minderwertigen Körperpartie, sie sah den Film mit einem Paar vulgärer, zu niedrigen Zwecken verwendbarer Augen, die sie zur Verfügung hat wie ein Opernglas und ein Lorgnon. Ich schlief mit einer Frau, die mich nach einer Stunde weckte, um mich zu fragen, ob meine seelische Liebe zu ihr auch meiner körperlichen Leistungsfähigkeit entspreche. Denn ohne Seelisches käme sie sich ›beschmutzt‹ vor. Ich mußte mich sehr schnell anziehen, und während ich meinen davongerollten Hemdknopf unter dem Bett suchte, erklärte ich ihr, daß meine Seele immer in jenen Körperteilen wohne, die ich gerade zur Ausübung irgendeiner Tätigkeit brauche. Also wenn ich spazierengehe, in den Füßen, und so weiter.

      ›Du bist ein Zyniker‹, sagte die Frau.

      Unter meinen dümmsten Kameraden in der Kadettenschule und später beim Regiment habe ich mich besser gefühlt. Die weiblichen Hilfskräfte zweiter Klasse aus der Etappe waren klüger als diese Damen. Die einzige Konzession, die sie an die Wirklichkeit machen, sind ihre Turnübungen jeden Morgen um sechs Uhr. Da heißt aber das Turnen auch nicht Turnen, sondern Eurhythmie. Sonst kämen sie sich bei jeder tiefen Kniebeuge beschmutzt vor.

      Meine Schwägerin erinnert mich an Natascha. Ich hätte mich niemals in Natascha verliebt, wenn ich den umgekehrten Weg gemacht hätte, aus dem Haus meines Bruders nach Rußland. Natascha hat der revolutionären Idee geopfert, Klara opfert teils der Kultur und teils der sozialen Gesinnung. Natascha aber handelte offensichtlich gegen ihre Natur, während Klara sich überhaupt nicht zu überwinden braucht. Nichts fällt ihr leichter als dieses soziale Empfinden, das sie veranlaßt, die Gesundheit des Lakaien zu schonen, Kellner wie Kriegskameraden zu behandeln und mich wie einen Milchbruder. Ich denke manchmal, daß sie ein verzaubertes Wesen ist, sie könnte auf einen gesunden Weg gebracht werden, man könnte aus ihr eine Frau machen. Aber das ist ebenso unwahrscheinlich wie die Liebe zu einem Staubsauger, Vacuum genannt, mit dem sie hierzulande des Morgens über die Teppiche fahren.

      Mein Bruder spricht mir wahrscheinlich die moralische Berechtigung zu leben ab, weil ich keinen Beruf habe und kein Geld verdiene. Ich komme mir selbst schuldbewußt vor, weil ich


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