Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот
Читать онлайн книгу.waren vergangene Woche in Berlin, mein Mann und ich«, sagte die Frau des Musikkritikers. »Diese Stadt wächst unheimlich. Die Frauen werden immer eleganter.«
»Mächtig, mächtig«, ließ sich der Fabrikant hören, »diese Stadt nimmt ganz Deutschland den Atem.«
Er knüpfte irgendeine Geschichte an das Thema Berlin. Immer war er es, der dem zerfallenden Gespräch ein neues Zentrum zu geben verstand.
Er sprach von der Industrie und vom neuen Deutschland, von den Arbeitern und dem Untergang des Marxismus; von der Politik und vom Völkerbund; von der Kunst und Max Reinhardt.
Der Fabrikant begab sich in ein abgelegenes Zimmer. Er legte sich, halbverdeckt von einem kupfernen Weihkessel, einer katholischen Rarität, auf ein breites Sofa. Er hatte die Lackschuhe aufgebunden, den Kragen aufgeknöpft, seine Hemdbrust stand offen wie eine doppelte Flügeltür, auf der nackten Brust lag ein seidenes Taschentuch.
So traf ihn Tunda.
»Ich habe Sie früher ganz genau verstanden, Herr Tunda«, sagte der Fabrikant. »Ich habe ganz genau verstanden, was Sie mit dem Wind in Baku gemeint haben. Ich habe ganz genau verstanden, daß Sie soviel erlebt haben und daß wir jetzt so ahnungslos daherkommen und Sie dumme Dinge fragen. Was mich betrifft, so habe ich meine praktischen Fragen aus einem ganz bestimmten egoistischen Grunde gestellt. Ich war gewissermaßen dazu verpflichtet. Sie verstehen das noch nicht. Sie müssen erst eine längere Zeit bei uns leben. Dann werden Sie auch bestimmte Fragen stellen und bestimmte Antworten geben müssen. Jeder lebt hier nach ewigen Gesetzen und gegen seinen Willen. Natürlich hat jeder einmal, als er anfing, beziehungsweise, als er hierherkam, seinen eigenen Willen gehabt. Er arrangierte sein Leben, vollkommen frei, niemand hatte ihm was dreinzureden. Aber nach einiger Zeit, er merkte es gar nicht, wurde, was er aus freiem Entschluß eingerichtet hatte, zwar nicht geschriebenes, aber heiliges Gesetz und hörte dadurch auf, die Folge seiner Entschließung zu sein. Alles, was ihm nachträglich einfiel und was er später ausführen wollte, mußte er gegen das Gesetz durchdrücken, oder er mußte es umgehen. Er mußte warten, bis es gewissermaßen die Augen vor Übermüdung einen Augenblick schloß. Aber Sie kennen das Gesetz ja noch gar nicht.
Sie wissen ja noch gar nicht, wie furchtbar offene Augen es hat, an den Brauen festgeheftete Augenlider, die niemals zuklappen. Wenn es mir zum Beispiel, als ich hierherkam, gefiel, bunte Hemden mit angenähten Kragen und ohne Manschetten zu tragen, so gehorchte ich mit der Zeit einem sehr strengen und unerbittlichen Gesetz, indem ich diese Art Hemden trug. Sie ahnen ja gar nicht, wie schwierig es war, aus praktischen Gründen – denn es war eine Zeit, in der es mir schlecht ging –, weiße Hemden mit auswechselbaren Kragen anzuziehen. Denn das Gesetz befahl: der Fabrikant X trägt bunte Hemden mit festen Kragen, wodurch er beweist, daß er ein Mann der Arbeit ist; wie seine Arbeiter und Angestellten. Er braucht nur seine Krawatte abzuknöpfen, schon sieht er aus wie ein Proletarier. Langsam, ganz vorsichtig, als hätte ich die weißen Hemden irgend jemandem gestohlen, begann ich, sie anzuziehen. Zuerst einmal in der Woche, am Sonntag, denn an diesem Tag pflegt das Gesetz manchmal ein Auge zuzudrücken, dann am Sonnabendnachmittag, dann am Freitag. Als ich zum erstenmal an einem Mittwoch ein weißes Hemd trug – Mittwoch ist ohnehin mein Unglückstag –, sahen mich alle Menschen vorwurfsvoll an, meine Sekretärin im Büro und mein Werkführer in der Fabrik.
Nun, Hemden sind ja auch nicht sehr wichtig. Aber sie sind symbolisch. Wenigstens in diesem Fall. Es geht ja auch mit den ganz wichtigen Dingen so. Wenn ich hierherkam als Fabrikant, glauben Sie, ich könnte hier jemals Kapellmeister werden, und wenn ich ein zehnmal besserer wäre als Ihr Herr Bruder? Oder glauben Sie, Ihr Bruder könnte jemals Fabrikant werden? Nun auch der Beruf ist meinetwegen keine so wichtige Sache. Es ist nicht maßgebend, wovon man lebt. Aber wichtig ist, zum Beispiel, die Liebe zu Frau und Kind. Wenn Sie anfingen, aus freiem Willen ein guter Familienvater zu sein, glauben Sie, daß Sie jemals aufhören können? Wenn Sie Ihrer Köchin eines Tages erklärt haben: ich liebe kein helles Fleisch, glauben Sie, daß Sie nach zehn Jahren Ihren Entschluß ändern können? Als ich hierherkam, hatte ich viel zu tun, ich mußte Geld beschaffen, eine Fabrik einrichten – denn ich bin der Sohn eines jüdischen Hausierers, müssen Sie wissen –, ich hatte keine Zeit für Theater, Kunst, Musik, Kunstgewerbe, religiöse Gegenstände, israelitische Kultusgemeinde, katholische Dome. Wenn mir also jemand mit irgendeiner Sache an den Leib rückte, wehrte ich ihn in einer groben Weise ab. Ich wurde also sozusagen ein Grobian oder ein Mann der Tat, man bewunderte meine Energie. Das Gesetz bemächtigte sich meiner, befahl mir Grobheit, unbekümmertes Handeln – ich muß, verstehen Sie, mit Ihnen so sprechen, wie es mir das Gesetz befiehlt. Wer befahl mir, Konzessionen in diesem dreckigen Rußland aufzunehmen? Das Gesetz! Glauben Sie, der Wind in Baku interessiert mich nicht mehr als das Petroleum? Aber darf ich Sie nach Winden fragen? Bin ich ein Meteorologe? Was wird das Gesetz dazu sagen?
So wie ich lügen alle Menschen. Jeder sagt das, was ihm das Gesetz vorschreibt. Die kleine Schauspielerin, die Sie früher über einen jungen russischen Schriftsteller fragte, interessiert sich vielleicht mehr für Petroleum. Aber nein, die Rollen sind jedem zugeteilt. Der Musikkritiker und Ihr Bruder zum Beispiel: beide spielen an der Börse, ich weiß es. Wovon reden sie? Von gebildeten Dingen. Sie können, wenn Sie in ein Zimmer treten und die Menschen ansehen, sofort wissen, was jeder sagen wird. Jeder hat seine Rolle. So ist es in unserer Stadt. Die Haut, in der jeder steckt, ist nicht seine eigene. Und wie in unserer Stadt ist es in allen, wenigstens in hundert größeren Städten unseres Landes.
Sehen Sie, ich war in Paris. Ich sehe davon ab, daß ich nach meiner Rückkehr niemandem sagen durfte, daß ich lieber als armer Mann in Paris unter der Seinebrücke leben möchte als in unserer Stadt mit einer mittelmäßigen Fabrik. Niemand wird es mir glauben, ich zweifle schon selbst daran, ob es mein aufrichtiger Wunsch war. Aber ich wollte Ihnen was anderes sagen: in der Avenue de l’Opéra spricht mich einer an. Er will mir Bordelle zeigen. Ich bin natürlich vorsichtig, der Mann sucht meine Bedenken zu zerstreuen. Er zählt mir seine Kunden auf. Er nennt mir den Minister, mit dem ich eine Woche vorher verhandelt habe. Er nennt mir nicht nur Namen, er hat Beweise. Er zeigt mir Briefe. Ja, es ist die Handschrift des Ministers. Lieber Davidowiczi – schreibt ihm der Minister, ein guter Freund von Davidowiczi. Weshalb schreibt er ihm: Lieber? Weil der Minister eine ganz bestimmte Perversität hat. Weil er Tag und Nacht nur an Ziegen denkt, an nichts anderes. Ich bitte Sie: an Ziegen. Und er ist nicht einmal Minister für Landwirtschaft. Er legt mit einem unwahrscheinlichen Eifer bei den Verhandlungen los. Man glaubt, auf den kann sich sein Ressort verlassen. Woran denkt er aber fortwährend? An Tiere. Wer verbietet ihm, das zu sagen, wovon er sprechen möchte? Das Gesetz.«
Der Fabrikant mußte schnell seinen Anzug wieder in Ordnung bringen, weil zwei Damen sich näherten. Es war merkwürdigerweise eine aus der Gruppe der Sachlichen mit einer aus der Gruppe der Pariserinnen. Sie sprachen von Kleidern, es hatte ganz den Anschein, daß sich die Sachliche bei der Eleganten erkundigen wollte.
»Er müßte ja nicht«, flüsterte der Fabrikant, »gerade von den Tieren so direkt sprechen, wie er es mit Davidowiczi tut. Aber er könnte ja auf Umwegen von ihnen sprechen, zum Beispiel von ihrem Nutzen für die Hauswirtschaft. Nicht einmal das tut er. Wer tut es denn? Was glauben Sie, wie viele Dinge da herauskämen, wenn wir in den Schub laden jedes einzelnen suchen könnten – und noch mehr als in den Schubläden in den inneren verborgenen Winkeln?
Als Sie von dem Wind sprachen, kamen mir die Tränen. Glauben Sie, ich hätte weinen dürfen? Ich darf poltern.
Ich will Ihnen gestehen, daß ich manchmal ins Kino gehe, um mich auszuweinen. Ja, ins Kino.«
Eine Dame kam, sah Tunda und lächelte ihn an, hold, lockend und distanziert, so, als hielte sie ein Zentimetermaß vor ihren Leib, so, als gäbe es ein bestimmtes Gesetz, das befiehlt, nur eine gewisse Anzahl Zähne beim Lächeln zu zeigen.
»Und Sie haben niemals Heimweh gehabt?« fragte sie. »Wir haben manchmal von Ihnen gesprochen. Sie waren ja verschollen.« Sie neigte den Kopf, als sie dieses Wort aussprach. Sie kam in Verlegenheit, weil sie einem anwesenden Menschen zu sagen hatte, er sei verschollen gewesen. Es war ein peinlicher, vielleicht sogar ein unanständiger Zustand, verschollen zu sein. Es war so etwas, wie einem Lebendigen sagen, er sei scheintot gewesen.
»Ihr Bruder hat oft von