Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот
Читать онлайн книгу.Nach dem Krieg heiratete Georg seine Kusine.
Er heiratete seine Kusine aus Mangel an Phantasie, aus Bequemlichkeit, aus Gewohnheit, aus Courtoisie, aus konzilianter Freundlichkeit, aus praktischen Gründen – denn sie war die reiche Tochter eines reichen Grundbesitzers. Nur ein Mann, dem es an Phantasie mangelte, konnte sie heiraten, denn sie war eine von den Frauen, die man »gute Kameraden« nennt und die einen Mann mehr stützen als lieben können. Man kann sie gut verwenden, wenn man zufällig Bergsteiger, Radfahrer oder Zirkusakrobat ist oder auch gelähmt in einem Rollstuhl liegt. Was aber ein normaler Städter mit ihnen anfängt, ist mir immer rätselhaft geblieben.
Klara – schon dieser Name scheint mir verräterisch – war ein guter Kamerad. Ihre Hand glich ihrem Namen, sie war so einfach, so gesund, so bieder, so zuverlässig, so ehrlich, daß ihr nur noch die Schwielen fehlten, es war die Hand eines Turnlehrers. Klara hatte, sooft sie einen Mann begrüßen mußte, Angst, er könnte ihr die Hand küssen. Sie gewöhnte sich deshalb einen ganz besonderen Händedruck an, einen resoluten, biederen, bei dem der ganze Unterarm des Mannes nach unten gedrückt wurde – schon dieser Händedruck war eine Turnübung. Man ging gestärkt daraus hervor. In Deutschland und in England, in Schweden, Dänemark, Norwegen, in vielen protestantischen Ländern gibt es Frauen, die derart Männern die Hand drücken. Es ist eine Demonstration für die Gleichberechtigung der Geschlechter und für die Hygiene, es ist eine wichtige Episode in dem Kampf der Menschheit gegen die Bazillen und die Galanterie.
Klaras Beine waren sachliche, gerade Beine, Wanderbeine, keineswegs Instrumente der Liebe, sondern eher des Sports, ohne Waden. Daß sie in seidene Strümpfe gehüllt waren, schien ein unverzeihlicher Luxus. Irgendwo müssen sie doch Knie haben, dachte ich immer, irgendwo müssen sie in Schenkel übergehen, es ist doch unmöglich, daß Strümpfe in Unterhöschen hineinwachsen und damit basta?! Es war aber so, und Klara war kein Geschöpf der Liebe. Sie hatte sogar etwas wie einen Busen, aber es schien nur ein Etui für ihre sachliche Güte zu sein. Ob sie ein Herz besaß, wer kann es wissen?
Ich habe bei dieser Beschreibung Klaras kein gutes Gewissen. Denn es scheint mir sündig, einen der tugendhaftesten Menschen, die mir im Leben begegnet sind, zuerst nach seinen sekundären Geschlechtsmerkmalen zu beurteilen. Sie war nämlich tugendhaft, Klara, wie konnte sie anders? Sie bekam ein Kind, natürlich von ihrem eigenen Mann, dem Kapellmeister – und obwohl es keineswegs eine Sünde, sondern im Gegenteil eine Tugend ist, von dem eigenen Mann Kinder zu bekommen, sah die legitime ehrwürdige Schwangerschaft bei Klara wie ein Seitensprung aus, und wenn sie das Kind säugte, war es wie das achte Wunder, wie eine Anomalie und eine Sünde zugleich.
Übrigens konnte das Kind – es war ein Mädchen – schon im vierten Jahr radfahren.
Von ihrem Vater, dem reichen Gutsbesitzer, hatte Klara ihre soziale Gesinnung gelernt und geerbt. Soziale Gesinnung ist ein Luxus, den sich die Reichen gestatten dürfen und der außerdem noch den praktischen Vorteil hat, daß er zum Teil den Besitz erhält. Ihr Vater pflegte mit dem Oberförster ein Gläschen Wein zu trinken, mit dem Förster einen Kognak und mit dem Forstgehilfen ein Wort zu wechseln. Auch die soziale Gesinnung kennt feine Unterscheidungen. Er ließ sich niemals die Stiefel von einem seiner Diener ausziehen, er benutzte aus Gründen der Menschlichkeit den Stiefelknecht. Seine Kinder mußten sich im Winter mit Schnee waschen, allein den weiten Weg in die Schule gehen, um acht Uhr abends in ihre stockdunklen Zimmer steigen und die Betten selbst machen. Nirgends in der Nachbarschaft hatten Dienstboten eine bessere Behandlung. Klara mußte ihre Hemden eigenhändig bügeln. Kurz: der Alte war, wie man zu sagen pflegt, ein Mann von Schrot und Korn, ein tugendhafter Grundbesitzer, eine lebendige Abwehrmaßnahme gegen den Sozialismus, weit und breit verehrt und in den Reichstag gewählt, wo er als Mitglied einer konservativen Partei den Beweis lieferte, daß Reaktion und Humanität nicht unvereinbare Widersprüche sind.
Er erlebte noch Klaras Hochzeit, war loyal gegen den Kapellmeister und starb einige Wochen später, ohne auch nur mit einer Miene verraten zu haben, daß ihm ein Gutsbesitzer lieber gewesen wäre: Humanität bis zum Grabe.
XV
Georg war konziliant. Es gibt Eigenschaften, die man nur mit einem Fremdwort bezeichnen kann. Ein konzilianter Mensch hat es im Leben schwerer, als man glaubt: die Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hat, können sich derart verdichten, daß er mitten im Lächeln eine tragische Erscheinung wird. Georg, der lauter Erfolge hatte, von den Frauen unaufhörlich in Anspruch genommen wurde und nicht nur die Kapelle des Operntheaters, sondern auch einen Teil der Bürgerschaft dirigierte – Georg war unglücklich. Er war sehr einsam inmitten der liebenswürdigen Welt, der eigenen und der fremden Freundlichkeit. Er hätte lieber in einer feindlichen oder in einer gleichgültigen Welt gelebt. Seine Freundlichkeit bedrückte zwar nicht sein Gewissen, aber seinen Verstand, der ungefähr so stark war wie der Verstand unliebenswürdiger Menschen, die manche Feinde haben. Jede Lüge, die er sagte, würgte ihn. Er hätte lieber die Wahrheit gesagt. Doch stieß im letzten Augenblick seine Zunge den Beschluß seines Gehirns um, und statt der Wahrheit erklang – worüber Georg selbst manchmal erstaunte – irgendeine polierte runde Sache von rätselhafter, angenehmer, melodiöser Beschaffenheit. An der Donau und am Rhein, den beiden legendären Strömen Deutschlands, wachsen manchmal solche Männer – wenig ist von den harten Nibelungen übriggeblieben.
Georg liebte seinen Bruder nicht – er vermutete in ihm den einzigen, der seine Lügen durchschaute. Er war froh, als man von Franz nichts hörte. Verschollen! – welch ein Wort! Welch ein Anlaß, traurig zu sein, traurig liebenswürdig, eine neue, bisher ungeübte Konzilianz. Dennoch war Georg der einzige, der vorläufig Franz helfen konnte.
Deshalb teilte ich Herrn Georg Tunda mit, daß sein Bruder zurückgekommen sei.
Hoch erfreut war darüber Klara. Jetzt hatte ihre Güte, lange Zeit tatenlos und ausgeruht, ein neues Objekt. Franz erhielt zwei Einladungen, eine herzlich aufrichtige und eine herzlich formvollendete. Die zweite stammte natürlich von Georg. Franz aber, der vor fünfzehn Jahren zuletzt mit seinem Bruder gesprochen hatte und daher weit davon entfernt war, ihn zu kennen – obwohl Georg gerade von Franz durchschaut zu sein glaubte –, Franz, der seinen Bruder nur der Musik wegen gehaßt hatte, Franz fuhr an den Rhein, in die Stadt der guten Oper und einiger Dichter von besserem Ruf.
XVI
Unterwegs mußte er einmal umsteigen. Er hielt sich nirgends auf. Er sah von Deutschland nur die Bahnhöfe, die Schilder, die Reklametafeln, die Kirchen, die Gasthöfe in der Nähe der Bahn, die stillen und grauen Straßen der Vorstädte und die Vorortbahnen, die an müde, dem Stall entgegentrabende Tiere erinnern. Er sah nur die wechselnden Passagiere, einzelne Herren mit Aktentaschen in Cutaways, die jedes offene Fenster strafend ansahen und einen freien Platz mit finsterer Entschlossenheit einnahmen wie eine Festung. Sie schienen kampfbereit irgendeinen Feind zu erwarten, der zu ihrem Ärger nicht kam. Indessen studierten sie in Papieren, die sie den Taschen entnommen hatten, mit dem Eifer, mit dem man sich auf einen bevorstehenden Feldzug vorbereitet. Es mußten wichtige Papiere sein. Denn die Herren beschatteten sie mit ihren Armen, umrahmten sie oder nahmen sie gleichsam unter ihre Fittiche, damit kein unbefugter Blick sie treffe.
Andere, weniger strenge Herren ohne Aktentaschen, in weltgewandten grauen Reiseanzügen setzten sich mit einem Seufzer, sahen freundlich auf den Gegenübersitzenden und begannen bald mit einem Gespräch, das einen ernsten, moralischen, wenn nicht tagespolitischen Inhalt hatte. Hier und dort stieg ein Jäger ein, die Flinte in braunem Lederfutteral in der Rechten, in der Linken – oder auch umgekehrt – einen Stock mit einem Hirschgeweih als Griff. Es sah teils gemütlich und teils bedrohlich aus.
Tunda dachte mit Sehnsucht an die russischen Eisenbahnen und ihre harmlos geschwätzigen Passagiere.
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