Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот
Читать онлайн книгу.nicht einmal zu irgendeiner der herrschenden Gesinnungen.
Vor einigen Tagen habe ich eine Frau kennengelernt. Schriftstellerin und Kommunistin. Sie hat einen rumänischen Kommunisten geheiratet, ebenfalls einen Schriftsteller, der mir talentlos und dumm vorkommt, der aber schlau genug ist, seine Dummheit in der kommunistischen Gesinnung zu verbergen und seine Faulheit mit Politik zu entschuldigen. Dieses Ehepaar lebt von den Subventionen eines kapitalistischen Onkels, eines Bankiers, und Aufsätzen für radikale Zeitschriften. Die junge Frau trägt Schuhe mit niedrigen Absätzen und verspottet die Gesellschaft, von der sie lebt. Mit ihrer eigenen Tochter spricht sie wie die Leiterin einer Besserungsanstalt mit einem minderjährigen Zögling. Man hält sie für einen launischen Auswuchs der Familie und sieht ihr alle Unarten nach. Sie hat einen unwahrscheinlich überlegenen Blick, sie verkehrt mit einigen Literaten, kennt ein Berliner Nachtlokal und hat einmal, aus Protest und der Gesinnung wegen, in einem proletarischen Viertel gelebt. Nach drei Monaten schickte ihr der Onkel Geld, und sie zog nach dem Westen. Seit jener Zeit kennt sie alle Höhen und Tiefen der Gesellschaft und schreibt Novellen aus dem Proletarierleben. Sagt man ihr: Gnädige Frau, so bekommt man ihre Verachtung zu fühlen, und sagt man ihr: Frau Tedescu, so ist sie schockiert. Mich verachtet sie schon von vornherein, weil ich nicht in Rußland geblieben bin. Sie weiß natürlich nicht, daß ich im Bürgerkrieg gekämpft habe, und würde es mir wahrscheinlich auch nie glauben. Höflichkeit hält sie für eine bürgerliche Gemeinheit. Ich habe eine besondere Art von Behandlung für sie erfunden. Ich drücke männlich ihre zarte kleine Hand, schüttle sie, sage ihr Genossin und spreche unverblümt von geschlechtlichen Dingen, die sie in ihren Novellen behandelt. Manchmal ist sie nahe am Weinen.
Ich werde nur bei einer einzigen Gelegenheit warm und wehmütig: wenn ich an Irene denke. Es ist nicht einmal Irene, meine Braut, die ich gekannt habe, als ich noch ein dummer Oberleutnant und Bräutigam war. Es ist irgendeine unbekannte Frau, die ich liebe und von der ich nicht weiß, wo sie lebt.
Georg sagte mir, er hätte gehört, sie wäre in Paris. In diesem Augenblick wurde mir kalt und warm, ich sah etwas leuchten, es war wie in Baku, als mir die Dame die lächerlichen Schaufenster von der Rue de la Paix nannte. Es ist so, als wäre ich mein ganzes Leben auf der Suche nach Irene und da und dort sagte mir einer, er hätte sie getroffen. Ich suche sie aber in Wirklichkeit ja nicht. Ich sehne mich auch nicht nach ihr. Vielleicht ist sie etwas ganz anderes als die übrige Welt, und es ist ein letzter Rest von Gläubigkeit in mir, wenn ich an sie denke. Man müßte vielleicht ein Schriftsteller sein, um das genau auszudrücken.
Manchmal erscheint es mir notwendig, sie aufzusuchen. Ich müßte nach Paris fahren, vielleicht würde sie mir begegnen. Dazu müßte man Geld haben. Aber ich kann es nicht von Georg nehmen. Das ist eine lächerliche Hemmung. Er würde es mir wahrscheinlich geben und wäre obendrein noch sehr erfreut, daß ich ihn verlasse. Aber für alle anderen Zwecke nähme ich Geld von Georg, nur nicht für diesen.
Und es ist außerdem an der Zeit, daß ich etwas verdiene. In dieser Weltordnung ist es nicht wichtig, daß ich arbeite, aber es ist um so nötiger, daß ich Geld einnehme. Ein Mensch ohne Einkommen ist wie ein Mann ohne Namen oder wie die Schatten ohne Körper. Man kommt sich vor wie ein Gespenst. Das ist kein Widerspruch zu dem, was ich oben geschrieben habe. Ich habe keine Gewissensbisse wegen meiner Untätigkeit, sondern weil meine Untätigkeit kein Geld einbringt, während die Untätigkeit aller anderen gut bezahlt ist. Geld allein verleiht Existenzberechtigung.«
XXII
In jener Zeit lebte ich in Berlin. Eines Tages sagte mir M.:
»Ich habe Irene Hartmann getroffen. Ich habe sie gegrüßt. Sie erkannte mich aber nicht. Ich gehe zurück, denke, daß ich mich geirrt habe, und grüße wieder. Sie erkennt mich aber nicht.«
»Sie haben sich bestimmt nicht geirrt?«
»Nein!« sagte M.
Ich schrieb hierauf an Franz Tunda.
»Lieber Freund«, schrieb ich ihm, »ich bin mir nicht klar über den Grund Deiner Rückkehr.
Du weißt es ja selbst nicht. Sollte es aber Irene sein, die Du finden willst – Herr M. hat sie vor kurzer Zeit in Berlin getroffen.«
Nach einigen Tagen kam Tunda.
Er gefiel mir außerordentlich.
Es dauert sehr lange, ehe die Menschen ihr Angesicht finden. Es ist, als wären sie nicht mit ihren Gesichtern geboren, nicht mit ihren Stirnen, nicht mit ihren Nasen, nicht mit ihren Augen. Sie erwerben sich alles im Laufe der Zeit, und es dauert, man muß Geduld haben, bis sie das Passende zusammensuchen. Tunda war jetzt erst mit seinem Angesicht fertig geworden. Seine rechte Augenbraue war höher als die linke. Dadurch bekam er den Ausdruck eines ständig erstaunten, über die sonderbaren Zustände dieser Welt hochmütig verwunderten Mannes, er hatte das Gesicht eines sehr vornehmen Menschen, der mit unmanierlichen Leuten an einem Tisch sitzen muß und ihr Gebaren mit herablassender, geduldiger, aber keineswegs nachsichtiger Neugier beobachtet. Sein Blick war gleichzeitig schlau und duldsam. Er schaute wie ein Mensch, der manche Schmerzen in Kauf nimmt, um Erfahrungen zu sammeln. Er sah so klug aus, daß man ihn fast für gütig halten konnte. In Wirklichkeit aber schien er mir schon jenen Grad der Klugheit zu besitzen, der einen Mann gleichgültig macht.
»Du willst also Irene sehen?«
»Ja«, sagte er. »Als ich deinen Brief erhielt, wollte ich sie sehen. Jetzt ist es mir wieder sehr zweifelhaft. Vielleicht würde es mir genügen, sie anzuschauen und dann zufrieden weiterzugehen.«
»Nehmen wir den Fall, du träfst mit ihr zusammen: Sie ist glücklich verheiratet, liebt wahrscheinlich ihren Mann mit jener Liebe, die sich zusammensetzt aus Gewohnheit, Dankbarkeit, gemeinsam erlebten Ähnlichkeiten, aus der körperlichen Erfahrung, die von den zahlreichen Liebesstunden kommt, aus den zeitweilig hervorbrechenden Leidenschaften, aus der Vertrautheit, in der es keine Scham mehr gibt – glaubst du, sie würde einfach aus dankbarer Erinnerung an eine verschüttete Brautzeit an deinen Hals fliegen? Liebst du sie denn mit der Leidenschaft, die sie dazu berechtigen würde? Wäre es dir vor allem erwünscht?«
»Das sind Dinge«, sagte Tunda, »die sich erst ereignen müßten, damit ich ihre Berechtigung erfahre. Wenn ich zu Irene rechtzeitig zurückgekehrt wäre, hätte mein Leben anders ausgesehen. Lauter Zufälle haben mich daran gehindert. Ich will dir gestehen, daß ich mir Vorwürfe mache. Ich werfe mir vor, daß ich mich wehrlos den Zufällen ausgeliefert habe. Jetzt ist es mir, als müßte ich Irene suchen, um mich zu rehabilitieren. In Wirklichkeit weiß ich nicht, was ich soll. Man muß doch ein Ziel haben?«
»Immer noch besser ein Ziel«, erwiderte ich, »als ein sogenanntes Ideal.«
»Immer noch besser«, sagte Tunda, »wenn es wirklich ein Ziel wäre.«
Wir erfuhren, daß Irene drei Wochen im Hotel Bellevue gewohnt hatte und nach Paris abgereist war.
»Ich werde hinfahren«, sagte Tunda.
XXIII
Er kam auf den Einfall, seine sibirischen Erfindungen drucken zu lassen. Dieses Buch war nicht beendet. Ich schrieb ein Nachwort, in dem ich mitteilte, daß der Autor in Sibirien verschollen und daß mir das Manuskript auf eine wunderbare Weise in die Hände gekommen sei. Es erschien unter dem Namen Baranowicz, in der Übersetzung von Tunda. Es erschien in einem großen Berliner Verlag.
Ich entsinne mich noch, wie Tunda überrascht war von den Straßen, den Häusern. Er sah die unwahrscheinlichen Ereignisse und Tatsachen, weil ihm auch die gewöhnlichen merkwürdig erschienen. Er saß auf den Dächern der Autobusse. Er stand vor jedem der hundert grauenhaften hölzernen Pfeile, die in Berlin Richtungen anempfehlen und verbieten. Er besaß die unheimliche Fähigkeit, den unheimlich