Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот

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Gesammelte Werke von Joseph Roth - Йозеф Рот


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lernte bei dem würdigen Präsidenten einige Menschen kennen: den Herausgeber einer Zeitschrift »von Bedeutung«, seine Mitarbeiter, eine Frau, von deren Beziehungen zu einem Minister Andeutungen gemacht wurden, einen Herrn von Adel, der am Rhein zu Hause war und Verwandte auf Schloßruinen in Frankreich, Italien und Österreich hatte. Es war einer von jenen Aristokraten, die Zeitschriften herausgeben, um sich durch eine Abart schöpferischer Tätigkeit ihres klangvollen Namens würdig zu erweisen. Sie haben sich mit der besiegelten Ohnmacht der Aristokratie noch nicht abgefunden, und während sie an den Tischen ihrer Erben, den Industriellen, den Hunger stillen, vergessen sie nicht einen Augenblick, daß sie diese Tische auch zieren. Weil sie nicht, wie manche ihrer Standesgenossen, die Fähigkeit haben, auch nur repräsentative Fabrikdirektoren und Empfangschefs in Kohlengebieten zu werden, beschäftigen sie sich mit der Politik. Und weil sie durch Kriege keine Besitzvergrößerungen mehr erhoffen, machen sie Friedenspolitik. Der besondere Reiz des Mannes, von dem hier die Rede ist, lag übrigens noch darin, daß er aus Prinzip für eine Diktatur war, für starke Fäuste. Er erwartete ein geeinigtes Europa, unter der Herrschaft eines Papstes mit weltlicher Diktaturgewalt oder etwas Ähnliches. Wenn er sprach, legte er die Hände zusammen, so, daß sich die Spitzen der Finger berührten, er muß es einmal von einem Abbé gelernt haben, wie man Giebel aus Händen konstruiert. Er sprach mit der eindringlichen, leisen und klangvollen Stimme beruflicher Hypnotiseure und bekleidete nüchterne Erzählungen mit mystischen Schimmern. Im übrigen gab er sich gerne für einen armen Teufel aus – auch das kann in der guten Gesellschaft ein Reiz sein.

      Frauen reicher Fabrikanten, die sich immer noch unverstanden wähnen, aber wenig Gelegenheit haben, mit der Literatur Fühlung zu bekommen – weil Literaten unter Umständen doch gefährlich werden können –, ergeben sich gerne Aristokraten mit literarischen Neigungen, in denen die weibliche Seele alles findet, wessen sie bedarf: Verständnis, Zartheit, Adel, einen Schuß Bohème. Jener Herr aß nicht nur an den Tischen der Industrie, er schlief auch in ihren Betten. In den unregelmäßigen Zwischenräumen gab er seine Zeitschrift heraus. Er hatte Mitarbeiter aus allen Lagern. Denn es gibt auch ehrliche Menschen, die am europäischen Frieden Interesse haben.

      Wie zum Beispiel jenen Diplomaten, der, an der Berliner französischen Botschaft beschäftigt, seine Karriere von einer deutsch-französischen Verständigung abhängig gemacht hatte. Er lebte seit Jahren in Deutschland und haßte es aufrichtig. Aber was konnte dieser Haß gegen seine Liebe zu sich selbst? Jeden Schritt der sogenannten Annäherung schrieb man ihm zugute, er vollbrachte Leistungen wider seinen Willen, er war ein Spezialist für Liebe zu Deutschland.

      Ehrlicher, aber auch ahnungslos, war die Dame mit den Beziehungen, die außer einem freundlichen Gesicht und einer gutgebauten Statur gerade so viel Verstand hatte, wie ein Zeitungsbericht erfordert und ein Gespräch mit einem deutschen Minister.

      Sie alle sprachen in weihevollen Stunden von einer Gemeinsamkeit der europäischen Kultur. Einmal fragte Tunda:

      »Glauben Sie, daß Sie imstande wären, mir präzise zu sagen, worin diese Kultur besteht, die Sie zu verteidigen vorgeben, obwohl sie gar nicht von außen angegriffen wird?«

      »In der Religion!« – sagte der Präsident, der niemals die Kirche besuchte.

      »In der Gesittung« – die Dame, von deren illegitimen Beziehungen die Welt wußte.

      »In der Kunst« – der Diplomat, der seit seiner Schulzeit kein Bild betrachtet hatte.

      »In der Idee: Europa« – sagte klug, weil allgemein, ein Herr namens Rappaport.

      Der Aristokrat aber begnügte sich mit dem Zuruf:

      »Lesen Sie doch meine Zeitschrift!«

      »Sie wollen«, sagte Tunda, »eine europäische Gemeinschaft erhalten, aber Sie müßten sie erst herstellen. Denn die Gemeinschaft ist ja nicht vorhanden, sonst würde sie sich schon selbst zu erhalten wissen. Ob man überhaupt irgend etwas herstellen kann, scheint mir ja sehr zweifelhaft. Und wer sollte übrigens diese Kultur, wenn sie noch da wäre, angreifen? Etwa der offizielle Bolschewismus? Der will sie ja auch in Rußland.«

      »Aber zugleich hier –jedenfalls hier zerstören, um sie vielleicht allein zu besitzen«, rief der Herr Rappaport.

      »Ehe er dazu kommt, ist sie wahrscheinlich durch einen neuen Krieg verschwunden.«

      »Eben den wollen wir ja verhindern«, sagten mehrere auf einmal.

      »Wollten Sie es nicht auch im Jahre 1914? Als aber der Krieg ausbrach, gingen Sie in die Schweiz, gaben dort Zeitschriften heraus, und hier erschoß man die Kriegsdienstverweigerer. Sie haben jedenfalls genug, um ein Billett nach Zürich rechtzeitig zu lösen, und immer Beziehungen, um einen gültigen Paß zu bekommen. Aber das Volk? Ein Arbeiter muß sogar in Friedenszeiten drei Tage auf ein Visum warten. Nur einen Einberufungsschein bekommt er sofort.«

      »Sie sind ein Pessimist«, sagte der gütige Präsident.

      In diesem Augenblick betrat ein Herr das Zimmer, den Tunda schon kannte. Es war Herr de V. Er kam eben von einer Amerikareise zurück. Er war wieder Sekretär, nicht mehr bei dem Rechtsanwalt, sondern bei einem hohen Politiker.

      Nie hätte er gedacht, so sagte er, daß Tunda wirklich nach Paris kommen könnte. Und welch ein glücklicher Zufall, der sie bei seinem alten lieben Freund – so dürfe er doch wohl sagen –, dem Herrn Präsidenten, zusammenführte.

      Dann begann der Sekretär von Amerika zu erzählen.

      Er war ein »geborener Erzähler«. Er ging von einer anschaulichen und übertriebenen Situation aus und kam von privaten Erlebnissen auf allgemeine Zustände. Er hob und senkte die Stimme, er erzählte die Hauptsachen sehr leise, so daß er Nebensachen mit lauter Stimme übertäuben durfte. Sehr ausführlich schilderte er den Verkehr in den Straßen und die praktischen Hotels. Über die Amerikaner machte er sich lustig. Theatervorstellungen beschrieb er mit Bosheit. Von Frauen deutete er Intimes an. Jedesmal zog er an den Bügelfalten über seinen Knien, es erinnerte von ferne an die schüchterne Bewegung eines jungen Mädchens, das seine Schürze zupft. Der Sekretär war unbedingt ein sympathischer Mensch. Aber seine plötzliche Rückkehr aus Amerika bewirkte, daß der alte gütige Präsident Tunda nicht mehr häufig einlud und daß er nicht mehr »lieber Herr« zu ihm sagte, sondern »mein Herr«.

      XXVI

       Inhaltsverzeichnis

      Tunda konnte bei Frau G. den intimen Freund eines großen Dichters und andere Menschen sehen.

      Die Damen saßen in Hüten, eine ältere Dame zog nicht die Handschuhe aus. Sie nahm das kleine Gebäck mit den ledernen Fingern entgegen, steckte es zwischen Lippen aus Karmin, kaute es mit Zähnen aus Porzellan – ob ihr Gaumen echt war, blieb zweifelhaft. Aber nicht sie, sondern der Freund des großen Dichters erregte Aufsehen.

      Der Freund des Dichters, ein Ungar, hatte sich in Paris so akklimatisiert wie einmal in Budapest. Die ungarische Melodie, mit der er französisch sang, hätte die empfindlichen Ohren der Franzosen beleidigt, wenn er nicht in dieser Melodie Geschichten aus dem Leben seines großen literarischen Freundes vorgetragen hätte. Auch der Ungar war ein Kulturvermittler und polyglott seit seiner Geburt. Er konnte davon leben. Denn er übersetzte Molnár, Anatole France, Proust und Wells – jeden in die Sprache, in der er gerade verlangt wurde, und außerdem die gangbaren Possen in alle Sprachen zugleich. Er war bekannt auf der Pressetribüne des Völkerbundes in Genf, in den Kanzleien der Berliner Revuetheater, der Theateragenten und in den Feuilletonredaktionen aller großen Zeitungen des Kontinents.

      Er sprach wie eine Flöte. Es war wunderbar, daß er mit dieser weichen Kehle in der Liga für Menschenrechte Protektionen für ungarische Freunde durchsetzen konnte. Er tat überhaupt manches Gute, nicht aus angeborener Hilfsbereitschaft, sondern weil ihn seine Verbindungen zwangen, Gefälligkeiten zu erweisen.

      Es traf sich, daß er mit Tunda zusammen das Haus der Frau G. verließ. Er gehörte zu jenen mitteleuropäischen Männern, die ihre Gesprächspartner


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