Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот

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Gesammelte Werke von Joseph Roth - Йозеф Рот


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Sie fuhr mit ihnen spazieren, besuchte Bälle, Berge und Badeorte, verliebte sich in sie, spielte und tanzte mit ihnen, heiratete einen von ihnen und gebar Kinder, die ihnen allen glichen. Grund genug, sie zu verachten! Grund genug, zu denken, daß die Natur, blind wie sie ist, auch die Frauen dieser widernatürlichen Kaste schön macht, wie sie ihre Männer gesund wachsen läßt. Ähnlich wie ein Mönch, der in die Gefahr gerät, an einer Frau Gefallen zu finden, dieser Gefahr entgeht, dank der unnatürlichen, aber unfehlbaren Methode, die Frau von ihren Reizen zu subtrahieren, so begann Tunda, Pauline zu ihrer Welt zu addieren. Bald fand er in der Tiefe ihrer hurtigen, koketten und stets besonnten Augen, in der anatomisch nicht festzustellenden, medizinisch nicht benannten Tiefe, eine stumpfe Wand, an der die Bilder der Welt traurig zerschellten.

      Er fand in den glatten und gepflegten Zügen die kalte Dummheit, die so ähnlich ist der lieblichen Gutmütigkeit, der herzlichen Grazie, der ahnungslosen Lebensfreude, diese trostlose, entzückende, elegante Dummheit, die sich des Bettlers am Straßenrand erbarmt und mit jedem ihrer leichten Schritte tausend Leben zertritt.

      Es war ein reiches Haus. Die jungen Leute, die dort verkehrten, kannten sich in den Tattersalls und auf den internationalen Sportplätzen ebensogut aus wie ihre Väter auf den Juwelenbörsen zwischen Bukarest und Amsterdam. Aber ebenso wie an leichter Farbenblindheit Kranke für einen Teil der Farbenskala keine Empfindung haben und Violett von Blau und Blau von Dunkelgrün schwer oder gar nicht unterscheiden können, so fehlte diesen jungen Leuten der Sinn für Schönheit, Häßlichkeit, Natürlichkeit, Unnatur, Annehmlichkeit und Ekel bestimmter Situationen und bestimmter »Zustände«. Ja, dergleichen hatten sie überhaupt nicht. Am meisten wunderte sich Tunda darüber, daß sie, die doch von der Natur begeistert und mit ihr verbündet zu sein vorgaben und es auch glaubten, von den wechselnden Launen der Natur gar nicht berührt wurden, daß sie an trüben und kühlen wie an warmen und heiteren Tagen die gleiche Physiognomie des Gemüts aufwiesen, daß sie in gewittriger Schwüle wie in frischer Nachregenzeit, am Mittag, bei Auf-und Untergang der Sonne sich immer in jener heiter-festlichen, hastigen und etwas verschwitzten Stimmung befanden, wie sie bei Tennisturnieren Teilnehmer und Ballaufklauber beherrscht. Im Smoking wie im Sporthemd waren sie die gleichen. Mit starken, weißen, breiten und wie eine Reklame für Kalodont wirkenden Zähnen, die sie entblößten, statt zu lächeln, mit breitwattierten Schultern und schmalen Taillen, mit großen, muskulösen und von jedem Tastgefühl gesäuberten Händen, mit bunten und dünnen Katzenschleifchen am Hals, mit sauber geschnittenem gutgepflegtem Haar, das seine Farbe niemals zu verlieren versprach, massiert, geduscht und jeden Augenblick wie aus Seebädern gestiegen, kamen ihm die jungen Männer wie eine Art großstädtischer, gezähmter und auf dem Korso gehaltener Raubtiere entgegen, für deren Unterhalt der Magistrat zu sorgen hatte. Sie sprachen mit schallenden Stimmen, in den Mundhöhlen entstand schon das Echo. Höflichkeitsphrasen, wie sie in den billigsten Führern zu einem guten Benehmen stehen, sagten sie mit unerschütterlichem Ernst auf. Von allen Gebieten des menschlichen Lebens wußten sie zu sprechen, in dem Ton, in dem die mondänen Zeitschriften auf den letzten Seiten und im kleinsten Druck, nachdem die Moden der nächsten Saison absolviert sind, pflichtgemäß von Politik, Literatur und Finanzen berichten. Über Maschinen und Automobile unterhielten sich die jungen Leute in der Sprache der Inserate. Überhaupt schienen sie ihren Stil aus den Anzeigenteilen der Zeitungen zu beziehen. Immer wußten sie Bescheid – und was sie von Dingen und Zuständen sagten, traf Dinge und Zustände ungefähr so, wie die Aufnahme eines fliegenden Photographen im Park die Physiognomie eines unruhigen Brautpaares.

      Die weiblichen Mitglieder dieser Gesellschaft führten ein frohgelauntes Leben in dünnen, bunten, leichten und kostbaren Kleidchen. Sie gingen auf tadellos geformten Beinen, in Schuhen von überraschendem, ja, manchmal exzentrischem Schnitt über das Pflaster, lenkten Automobile, galoppierten auf Pferden, kutschierten leichte Wägelchen, und Claude Anet war der Autor ihres Herzens. Sie tauchten niemals einzeln oder zu zweit auf, sie formierten sich, den Zugvögeln ähnlich, in Schwärmen, und sie waren alle gleich schön, wie Vögel. Untereinander mochten sie sich wohl durch bestimmte Kleider und Schleifen, durch die Verschiedenheit einiger Haarfärbemittel und Lippenstifte unterscheiden. Dem Außenstehenden aber waren sie Kinder derselben Mutter, Schwestern von verblüffender Gleichheit. Daß sie verschiedene Namen trugen, war ein Irrtum der Behörden.

      Übrigens hatten die meisten englische Vornamen. Man hatte sie – und das war vollkommen gerecht – nicht nach Heiligen genannt und nicht nach Großmüttern, sondern nach Heldinnen amerikanischer Filme oder englischer Salonlustspiele. Nichts fehlte ihnen mehr zur Übernahme bestimmter Rollen. So, wie sie ins Zimmer traten, eine Wolke von Duft und Schönheit vor sich herwehend und um sich verbreitend, konnten sie eine Bühne betreten oder sich in agierende Schatten auf einer Leinwand verwandeln. Es war selbstverständlich, daß sie, die so lebendig waren, nicht lebten. Tunda empfand sie nicht als Wirklichkeiten, ebenso wie man die Girls auf den Varietébühnen, weil sie so unwahrscheinlich gleichartig, schön und zahlreich sind, trotz ihrer körperlichen Lebhaftigkeit, ihrer fleischlichen Tugenden, dennoch wie eine Art Wachtraum empfindet, eingeschaltet zwischen Amüsiernummern, Folgen einer hypnotischen Suggestion. Alle diese Mädchen erschienen Tunda wesenlos, wie Photographien in illustrierten Zeitungen. Es war, wenn sie ihm entgegenkamen, als hätte er sie aufgeblättert. In Wirklichkeit waren sie ja auch die anmutigen Objekte der illustrierten Zeitungen. Sie waren ja die größere Hälfte der mondänen Welt, im Winter (strahlend weiße Wolle an den Körpern) im blendenden Schnee von St. Moritz rodelnd, im Februar blumenbekränzt auf dem Faschingskorso in Nizza, im Sommer nackt an den Ufern der Meere, im Herbst heimkehrend und mit neuen Hüten die Wintersaison eröffnend.

      Sie waren alle schön. Sie besaßen die Schönheit einer Gattung. Es schien, als hätte ihr Schöpfer eine große Quantität Schönheit an alle gleichmäßig verteilt, aber sie reichte nicht aus, um sie untereinander zu differenzieren.

      XXXII

       Inhaltsverzeichnis

      Dachte Tunda an Irene, so erschien sie ihm ebensoweit von dieser sorglosen und anmutigen Welt entfernt wie er selbst. Man kann ein solches Verhältnis »romantisch« nennen. Es scheint mir, daß dies der einzige Begriff ist, der heute noch Berechtigung hat. Es scheint mir, daß zwischen der Qual, diese Wirklichkeit, diese unwahren Kategorien, seelenlosen Begriffe, ausgehöhlten Schemata zu ertragen, und der Lust, in einer Unwirklichkeit zu leben, die sich selbst bekennt, keine Wahl mehr sein kann. Zwischen einer Irene, die Golf spielt und Charleston tanzt, und einer, die nicht einmal polizeilich registriert ist, vor die Wahl gestellt, entschied sich Tunda für die zweite. Was aber gab ihm das Recht, eine Frau zu erwarten, die anders war als alle, die er sah? Als Frau G. zum Beispiel, die er doch einen Abend lang geliebt hatte, das ferne Abbild der fernen Irene? – Nur die Tatsache, daß er sie versäumt hatte; daß er auf dem Wege zu ihr, von einem fremden Schicksal wie von einem Wind ergriffen, in andere Gegenden getragen worden war, in andere Jahre, in eine andere Existenz.

      Es war das letzte Mal, daß er zu Pauline kam. Ihre Koffer standen halbgefüllt und immer offen in ihrem Zimmer. Sie fuhr endlich nach Dresden. Tunda sprach mit ihrem Vater. Herr Cardillac saß auf einem Stuhl, der ihn nicht ganz fassen konnte, er ragte über den Sitz hinaus und über die Lehne, obwohl er nicht etwa allzuviel Fett oder Fleisch besaß, sondern eher muskulös als dick war, eher gedrungen als kolossal. Er war klein, er stand auf kurzen Beinen sehr fest, unerschütterlich, wie ein eiserner Gegenstand, sein Nacken war rot und hart, sein Hals kurz, seine Hände breit, aber seine Finger, als hätte er sie erst spät anfertigen lassen, von einer gewissen Grazie. Sie machten ihn beinahe sympathisch, wenn sie ungezogen auf dem Tische trommelten oder die Knöpfe der Weste abtasteten oder zwischen Hals und Kragen krochen, um den steifen Hemdsaum zu lockern. Ja, Tunda fand Herrn Cardillac sogar erträglich. Die ältere Generation konnte er überhaupt besser leiden. Ein Sohn des Herrn Cardillac wäre ihm unerträglich gewesen. Der Vater aber hatte noch, wenn er sich für kurze Augenblicke vergaß und schwach wurde, die sympathische, biedere, eigentlich mitleidheischende Armut des arbeitenden Mannes, die einer Vorurteilslosigkeit gleich ist und der Güte nahekommt. Seine simple Ehrlichkeit lag begraben, aber fühlbar unter einer Schicht von anerzogenen Manieren, schwer erworbenen und schwer erhaltenen Hemmungen, unter mühsam aufgeschichteten


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