Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот

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Gesammelte Werke von Joseph Roth - Йозеф Рот


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sah – er trug eine Brille, ohne weitsichtig zu sein und nur um sein nacktes Auge zu maskieren, über dem die Brauen ausgegangen waren –, wenn man gleichsam mit einem vertrauten Blick diese Brille abnahm und also Herrn Cardillac entkleidete – dann geschah es, daß er mit leiser Stimme von seiner harten Jugend zu sprechen begann und nur wenig log. In dem Augenblick aber, in dem die Rede auf das Allgemeine geriet, wurde Cardillac offiziell, und es war, als hätte er das Mandat, die Gesellschaft zu vertreten, deren Stütze er war und die ihm seine angenehme Lage ermöglichte.

      Tunda unterhielt sich also mit Herrn Cardillac, er war sogar ein bißchen wehmütig, da er sein Haus verlassen sollte. Cardillac lud ihn ein, im Winter wiederzukommen. Er gebe kleinere und wohl auch größere, aber meist intime Gesellschaftsabende, bei denen junge Männer immer gerne gesehen würden. Sie schüttelten sich die Hände, Tunda nahm einen Scheck entgegen, verabschiedete sich von Fräulein Pauline und ging.

      Vor dem Haustor stand ein Auto, der Motor sang noch, der Chauffeur machte die Tür auf, und eine Dame trat heraus. Sie war schlank, blond, grau gekleidet. Tunda sah mit einem Blick die schmalen Schuhe, graues, glattes Leder, die den Fuß sanft umspannten, sah den dünnen, gleichsam blühenden Strumpf, diese künstliche und doppelt erregende Haut des Beins, er umklammerte mit beiden Augen, wie mit zwei Händen, die schmalen lockeren Hüften. Die Frau kam immer näher, und obwohl vom Rand des Bürgersteigs bis zur Schwelle des Hauses, auf der er stand, kaum drei Schritte zurückzulegen waren, schien es ihm, als dauerte ihr Weg eine halbe Ewigkeit, als ginge sie zu ihm, geradewegs zu ihm und nicht in das Haus und als hätte er schon seit Jahren auf diesem Fleck diese Frau erwartet.

      Ja, sie kam heran, er sah in ihr schönes, stolzes, geliebtes Gesicht. Sie erwiderte seinen Blick. Sie sah ihn an, ein bißchen unwillig und ein bißchen geschmeichelt, wie Frauen im Vorübergehen den Spiegel eines Restaurants oder einer Treppe sehen, vergnügt, festzustellen, wie schön sie sind, und die Billigkeit des Glases verachten, das dennoch nicht imstande ist, ihre Schönheit wiederzugeben. Irene sah Tunda und erkannte ihn nicht. Eine Wand stand in der Tiefe ihres Auges, eine Wand zwischen Netzhaut und Seele, eine Wand in ihren grauen, kühlen, unwilligen Augen.

      Irene gehörte zur anderen Welt. Sie ging zu den Cardillacs. Sie fuhr mit Fräulein Pauline nach Dresden. Sie lebte gesund und glücklich, spielte Golf, badete an den sandigen Ufern der Meere, hatte einen reichen Mann, empfing und gab Gesellschaften, gehörte Wohltätigkeitsvereinen an und hatte ein gutes Herz. Tunda aber erkannte sie nicht.

      XXXIII

       Inhaltsverzeichnis

      Tunda bekam einen dicken Brief, endlich den ersten Brief von Baranowicz.

      Er hatte einige Umwege gemacht, war von Berlin zu Georg gegangen, es war ein weitgewanderter Brief, drei Monate hatte er gebraucht. Es schien, daß er unterwegs zugenommen hatte.

      Baranowicz dankte für das Geld, er war bereit, es zurückzuschicken und noch etwas dazu. Denn er hatte glänzende Geschäfte gemacht, einen Teil seines Grundstückes hatte ihm der Staat abgekauft, die Erde enthielt kostbare Minerale. Man sprach von Platin. Außerdem würde in einem halben Jahre eine neue wissenschaftliche Expedition abgehen, mit Baranowicz als Führer durch die Taiga. Hätte Tunda Lust, so könnte er mitkommen. Baranowicz hatte schon Vorschuß für allerhand Ausrüstungen bekommen.

      Dann kam ein Abschnitt, der Tunda ein wenig überraschte. Er lautete:

      »Fast hätte ich das Wichtigste vergessen:

      Vor zwei Monaten kam eine Frau bei mir an, es taute schon, und die Tage wurden länger, eine Frau wie ein Vogel. Sie stellte sich als meine Schwägerin vor, sie kam vom Kaukasus her, mit vielen Pelzen und Deiner Photographie als Beweis, drei Wochen hatte sie gebraucht. Ein Pelzhändler aus Omsk brachte sie, Du hättest ihr Geld geschickt, sagte sie. Und zu mir kam sie, weil ich ihr einziger Verwandter in der Welt wäre – und ihr Onkel, ein Töpfer, sei gestorben.

      Sie heißt Alja und ist den größten Teil des Tages stumm.

      Ich lasse sie wohnen, mache ihr ein Bett, und so lebt sie neben mir. Wir sprechen selten, und ich frage sie nicht, was sie ohne Dich machen wird. Sie spricht sehr schlecht russisch, wenn sie überhaupt den Mund aufmacht.

      Wenn ich mich recht darauf verstehe, ist sie schön.

      Ich kann ihr auch Geld geben, wenn Du willst, daß sie zu Dir kommt. Ich kann sie aber auch behalten. Mir ist es gleich! Schreibe mir, Irkutsk postlagernd. Jeden Monat holt Isaak Gorin, der Grammophonhändler, meine Post ab.

      Ich hab ihm auch ein Grammophon abgekauft, und die Frau, die Deine Frau zu sein angibt, hört gern zu. Manchmal weint sie auch. Vielleicht weint sie um Dich, denke ich so – und dann können mir auch die Tränen kommen.

      Jekaterina Pawlowna wollte ich schon einmal zu mir holen, aber sie geht nicht. Sie hat Geld erspart. Sie will nicht unter Wölfen sterben, sagt sie, sondern in der Stadt, unter Menschen.«

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      Tunda konnte also zurückkehren – zu Baranowicz, von dem er fortgegangen war, Irene zu suchen.

      Er konnte zurückkehren. Seine Frau erwartete ihn schon.

      Er sah das Gehöft seines Bruders, die zwei Hunde, Barin und Jegor, den großen kupfernen Kessel, in dem das Fleisch kochte, die Felle der Elentiere auf dem tiefen Bett, er hörte den Schlag der Uhr und das leise Ächzen, das sie vor jedem Schlag ausstieß, und das harte Klopfen der Rabenschnäbel auf dem Fensterbrett.

      Aber er hatte keine Sehnsucht nach der Taiga. Hier, so schien es ihm, war sein Platz und sein Untergang. Er lebte vom Geruch der Fäulnis, und er nährte sich von dem Moder, er atmete den Staub der zerfallenden Häuser und lauschte mit Entzücken dem Gesang der Holzwürmer.

      Er behält die Photographie Irenes, wie er sie jahrelang getragen hat. Sie liegt auf seiner Brust. Er geht mit ihr durch die Straßen. Auf dem Platz vor der Madeleine bleibt er stehen und sieht in die Rue Royale.

      Damals traf ich Tunda.

      XXXIV

       Inhaltsverzeichnis

      Es war am 27. August 1926, um vier Uhr nachmittags, die Läden waren voll, in den Warenhäusern drängten sich die Frauen, in den Modesalons drehten sich die Mannequins, in den Konditoreien plauderten die Nichtstuer, in den Fabriken sausten die Räder, an den Ufern der Seine lausten sich die Bettler, im Bois de Boulogne küßten sich die Liebespaare, in den Gärten fuhren die Kinder Karussell. Es war um diese Stunde, da stand mein Freund Tunda, zweiunddreißig Jahre alt, gesund und frisch, ein junger starker Mann von allerhand Talenten, auf dem Platz vor der Madeleine, inmitten der Hauptstadt der Welt und wußte nicht, was er machen sollte. Er hatte keinen Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus.

      So überflüssig wie er war niemand in der Welt.

       Für Benno Reifenberg

       Inhaltsverzeichnis

       I

       II

       III

       IV

       V

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