Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот

Читать онлайн книгу.

Gesammelte Werke von Joseph Roth - Йозеф Рот


Скачать книгу
man den Kontakt aus der Wand entfernt.

      »Sie kennen Herrn de V.?« fragte er.

      »Nicht sehr genau!« erwiderte Tunda.

      »Welch ein geschickter Mann – sehen Sie, jetzt kommt er gerade aus Amerika zurück. Eine Weltreise ist für ihn ein Katzensprung. Er hat übrigens schon die halbe Welt gesehen. Das kostet ihn keinen Pfennig. Er ist immer bei irgendeinem reichen oder wenigstens einflußreichen Mann beschäftigt. Als Sekretär oder –«

      Er wartete eine lange Minute, dann sagte er: »Mit Frau G. ist es aus.«

      Er ließ Tundas Arm los, stellte sich ihm gegenüber, als erwarte er etwas Außerordentliches.

      Statt dessen aber sagte Tunda gar nichts.

      »Sie wußten es wohl?« fragte er.

      »Nein!«

      »Aber Sie interessieren sich nicht für den Herrn.«

      »Nur wenig.«

      »Dann gehen wir einen Kaffee trinken.«

      Und sie gingen einen Kaffee trinken.

      XXVII

       Inhaltsverzeichnis

      Um diese Zeit begann Tundas Geld auszugehen.

      Er schrieb seinem Bruder. Georg antwortete, daß er mit barem Geld leider nicht helfen könne. Sein Haus stände allerdings immer offen.

      Die Kühnheit der schönen Hotelwirtin, die Tunda so bewundert hatte, verwandelte sich in Hohn. Denn die schönen, jungen und kühnen Wirtinnen der Hotels haben nicht umsonst ein Leben hinter dunklen, billig geblümten Vorhängen verbracht. Dafür will man bezahlt sein.

      Die Armut eines Mieters halten sie für eine ausgeklügelte Bosheit, ihnen persönlich vom Mieter zugedacht.

      Die Vorstellung, die der kleine Bürger von der Armut hat: der Arme hat sich lange um die Armut beworben, um mit ihrer Hilfe seinem Nächsten ein Leid anzutun.

      Aber gerade vom kleinen Bürger ist, wer gar nichts hat, abhängig. Hoch oben hinter den Wolken lebt Gott, dessen Allgüte sprichwörtlich geworden ist. Ein bißchen tiefer unten leben die verwöhnten Menschen, denen es gut geht und die vor jeder Ansteckung mit der Armut so gefeit sind, daß sich bei ihnen die wunderbaren Tugenden entwickeln: Verständnis für die Not, Barmherzigkeit, Güte und sogar Vorurteilslosigkeit. Aber zwischen diesen Edlen und den andern, die den Edelmut am ehesten brauchen, sind als Isolatoren die Mittelständler geklemmt, die den Brothandel betreiben und die Versorgung der Menschen mit Kost und Quartier. Die ganze »soziale Frage« wäre gelöst, wenn die Reichen, die ein Brot verschenken können, auch die Bäcker der Welt wären. Es gäbe viel weniger Ungerechtigkeit, wenn die Juristen vom obersten Gerichtshof in den kleinen Strafgerichten säßen und die Polizeipräsidenten selbst die kleinen Diebe verhaften wollten.

      So aber ist es nicht.

      Der Hoteldiener fühlte zuerst, daß Tunda kein Geld mehr hatte. Im Laufe eines langen Lebens hatte er seinen angeborenen Instinkt für den Besitzstand der wechselnden Herren zu einer Prophetie entwickelt. Er hatte Millionen Rasierklingen stumpf werden sehen, Millionen Seifen kleiner werden, Millionen Zahnpastatuben flach werden. Er hatte tausend Anzüge aus den Kleiderschränken auswandern sehen. Er lernte erkennen, ob einer hungrig aus einem Park zurückkehrte oder satt aus einem Gasthaus.

      XXVIII

       Inhaltsverzeichnis

      Tunda kannte Europa noch nicht. Er hatte anderthalb Jahre für eine große Revolution gekämpft. Aber hier erst wurde ihm klar, daß man Revolutionen nicht gegen eine »Bourgeoisie« macht, sondern gegen Bäcker, gegen Kellner, gegen kleine Gemüsehändler, winzige Fleischhauer und machtlose Hoteldiener.

      Niemals hatte er die Armut gefürchtet, er hatte sie kaum gefühlt. Aber in der Hauptstadt der europäischen Welt, aus der die Gedanken der Freiheit ausgehen und ihre Gesänge, sah er, daß man keine trockene Brotrinde umsonst bekommt. Die Bettler haben ihre ganz bestimmten wohltätigen Spender, und aus jedem mitleidigen Herzen, an das man klopft, kommt die Antwort: Schon besetzt!

      Er ging einmal zu Frau G.

      Zum erstenmal kam es ihm in den Sinn, daß zwischen ihr und ihm gar nichts bestand, daß jener Nachmittag, jener Abend in Baku nichts mehr waren als die Begegnung zweier Menschen auf einem Bahnhof, bevor sie in verschiedene Züge steigen. Er erkannte; daß ihre Fähigkeiten, zu erleben, Schmerzen zu fühlen, Freude, Angst, Kummer, Jubel und alles, was Leben ausmacht, erstorben waren. Er konnte nicht entscheiden, ob der Besitz, ob die materielle Sicherheit, in der sie lebte, sie stumpf gemacht hatten. Sie hatte ja die bewundernswerte, rätselhafte Fähigkeit, mit schlanken Fingern die Gegenstände und die Menschen, mit schönen schmalen Füßen und Zehen den Boden zu berühren. Jede ihrer Bewegungen hatte doch ihren Sinn, einen fernen, einen dichterischen Sinn, er war da außer dem unmittelbaren Zweck und wichtiger als dieser. In ihr war der Siedlungsbereich der europäischen Kultur, von der die Unglücksverhüter, die Europäer sprachen. Keinen anderen, keinen stärkeren Beweis für die Existenz einer europäischen Kultur als diese Frau G. Aber damit sie sei, waren die Menschen ohne Herz, die Bäcker hart und die Armen ohne Brot. Und sie, das Resultat dieses Unglücks, wußte es nicht, durfte es nicht wissen, sie durfte nicht einmal eine große Leidenschaft fühlen, weil Leidenschaft der Schönheit schadet. So einfach war die Welt trotzdem nicht, wie Natascha einmal erklärt hatte. Es gibt auch andere Gegensätze als reich und arm. Aber es gibt eine Not, der man tausend Erkenntnisse und das Leben verdankt, und einen Reichtum, der tot macht, tot und schön, tot und zauberhaft, tot, glücklich und vollkommen.

      Wie durch irgendein Gesetz verpflichtet, sagte Tunda: »Ich liebe Sie!« – vielleicht nur um seine Anwesenheit zu erklären.

      Denn was hätte er sonst hier zu suchen gehabt? Er suchte wie ein Mensch, der einen Menschen verliert, aus dem Trieb, der manchmal stärker ist als der Trieb der Selbsterhaltung, nach einem letzten Mittel, sie zu halten.

      Er dachte die ganze Zeit: was würde sie sagen, wenn es ihm einfiele, sie um Geld zu bitten. Wie häßlich käme es ihr vor, erstens, daß er kein Geld hatte, zweitens, daß er in ihrer Gegenwart davon sprach, drittens, daß er keine wichtigeren Sorgen hatte als die, was er morgen essen werde? Wie würde sie ihn verachten! Wie häßlich ist Geld, das man nicht hat! Um wieviel häßlicher, wenn man es mitten in der schönsten Stadt der Welt, vor einer schönen Frau nötig hat. Armsein war in ihren Augen das Unmännlichste – und nicht nur in ihren Augen. In dieser Welt war Armut Unmännlichkeit, Schwäche, Torheit, Feigheit und ein Laster.

      Er verließ sie mit jener falschen, hoffnungslosen Freudigkeit, die dem Lächeln müder Artisten im Varieté gleicht, mit jener Freudigkeit, die wir hundertmal im Tage anlegen, als hätten wir uns vor einem Publikum zu verneigen. Er nahm von ihr einen stillen Abschied, wie ein überzeugter Selbstmörder von einem geliebten und verachteten Leben.

      Er ging die Rue de Berri entlang, in der sie wohnte, erreichte die Champs Elysées und befand sich außerhalb dieser Menschen, die er dennoch mit dem Ärmel streifte. Als stünde er wie ein Bettler jenseits der Welt und sähe sie nur durch eine harte, undurchdringliche, in all ihrer Freundlichkeit bedrohliche Fensterscheibe.

      Es war ein heller Nachmittag, die kleinen Automobile liefen wie Kinder über die breiten Straßen, verspielt, heiter, lärmend. Da gingen die schönen alten Herren, helle Handschuhe an den Händen, helle Gamaschen an den Füßen – und im übrigen waren sie dunkel gekleidet und feierlich und zugleich lebenslustig. Sie gingen in den Bois de Boulogne, um dort ihren fröhlichen, einem zweiten Morgen gleichen Lebensabend zu verbringen. Da gingen die kleinen Mädchen, die gesitteten, reifen, klugen Weltstadtkinder, die ihre Mutter an der Hand führen und mit der zierlichen Sicherheit der Damen über das Pflaster wandern, zauberhafte Wesen zwischen Tier und Prinzessin. Da saßen auf den


Скачать книгу