Verschollen am Mount McKinley / Die Wölfe vom Rock Creek. Christopher Ross
Читать онлайн книгу.In der Cafeteria des Krankenhauses hatte er sie zu einem Cappuccino eingeladen und ihr einen Schein zugesteckt, dann war er gleich wieder verschwunden, eine wichtige Operation, bei der es wie immer um Leben und Tod ging. Ihr Vater neigte zur Theatralik, wenn er über seinen Beruf berichtete. »Mach deinem Vater keinen Kummer«, sagte er zum Abschied, »pass auf dich auf!«
Ihr Vater hatte es noch nie verstanden, Gefühle zu zeigen. Vielleicht ein Grund dafür, dass Julies Mutter davongelaufen war. »In unserem Beruf musst du dich abgrenzen können«, hatte er schon mehrmals gesagt, »wenn du dich zu sehr auf deine Patienten einlässt, hast du schon verloren. So viel Schmerz könntest du nicht ertragen.« Leider übertrug er diesen Leitspruch auch auf sein Privatleben. Er brachte es nicht fertig, seine Gefühle zu zeigen, und schreckte sogar davor zurück, sie zu umarmen, obwohl er sie mehr als alles andere liebte. Nicht nur auf seinem Schreibtisch stand ihr Foto, er trug sogar eines in seinem Arztkittel spazieren. »Du bringst mir Glück«, sagte er.
Eine der wenigen Ampeln, die auch um diese Zeit eingeschaltet waren, sprang auf Rot und zwang sie anzuhalten. Sie ließ ihren Blick über die Straße wandern. Gegenüber lag eine der größten Tankstellen der Stadt, ein hell beleuchteter Flachbau mit vier überdachten Fahrspuren und einem Lokal, vor dem mehrere Trucks parkten. Doch sie hatte nur Augen für den jungen Mann im gelben Parka, der aus einem Pick-up wie ihrem stieg und seinen Wagen betankte. »Das ist Josh!«, flüsterte sie überrascht. »Was macht der denn hier?«
Sie wechselte die Fahrspur, um an der nächsten Kreuzung umdrehen und zu ihm fahren zu können, und war bereits dabei, das Fenster herunterzulassen, als die Beifahrertür seines Wagens aufsprang, und eine junge Lady in einer modischen Pelzjacke ausstieg. Unter der Jacke schaute ein rotes Kleid hervor. Sie trug pelzbesetzte Stiefel und lief geduckt durch das leichte Schneetreiben zum Tankstellengebäude, wahrscheinlich, um dort die Toilette zu benutzen.
»Ach nee!«, flüsterte sie. »Mich zur Pizza einladen, und kaum spure ich nicht so, wie du willst, hast du schon eine andere an der Angel!« Sie ließ wütend das Fenster hoch. »Wer ist das? Die Beautyqueen vom College?«
Sie duckte sich rasch, als Josh in ihre Richtung blickte, und spähte vorsichtig über das Lenkrad hinweg. Im hellen Licht der Tankstelle war sein Gesicht deutlich zu sehen. Es war Josh, daran gab es keinen Zweifel! Der Mistkerl hatte sich eine andere gesucht, eine aufgedonnerte Tussi, und mit ihr gleich die halbe Nacht durchgefeiert. Sein gutes Recht, wenn man es nüchtern sah, immerhin hatte sie ihn abblitzen lassen, aber einen besonderen Eindruck schien sie nicht auf ihn gemacht zu haben, sonst hätte er bestimmt anders gehandelt.
Die Ampel schaltete auf Grün, und sie machte, dass sie weiterkam. Im Seitenspiegel beobachtete sie, wie Josh auf die verlassene Straße lief und ihr nachblickte. Vor lauter Schreck verriss sie das Steuer und geriet ins Schleudern, prallte mit dem linken Vorderrad gegen den Bordstein und konnte von Glück sagen, dass sie allein auf der Straße war und ihr kein anderer Wagen entgegenkam. Nur mühsam bekam sie ihren Pick-up wieder unter Kontrolle und fuhr langsam weiter, den jungen Mann noch immer im Spiegel.
Als die Straße einen Bogen machte und er aus ihrem Blickfeld verschwand, atmete sie erleichtert auf. Sie beschleunigte vorsichtig und bog auf den Highway nach Süden, die Straße, die zum Denali National Park und dann weiter nach Anchorage führte. Gegen ihre Angewohnheit stellte sie das Radio an und schaltete auch nicht ab, als einer dieser unsäglichen Top-40-Hits erklang, der ihr schon seit einigen Wochen auf die Nerven ging. Immer wenn sie das Radio einschaltete oder in einen Raum kam, in dem ein Radio lief, war dieser Song zu hören: der erste Hit eines »American Idol«-Gewinners. Genau das Richtige, um ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
Auf dem Highway war etwas mehr Verkehr. Etliche Trucks begegneten ihr und deckten sie jedes Mal mit dem Schnee ein, der unter ihren Rädern nach oben spritzte. Ihre Scheinwerfer blendeten. Eine Weile war sie gezwungen, hinter einem Räumfahrzeug zu fahren, auch um gegen den böigen Wind geschützt zu sein, der plötzlich über den Highway blies, dann überholte sie und blieb in den tiefen Spuren, die ein Truck in den Neuschnee gegraben hatte.
Sie brauchte über zwei Stunden für die 120 Meilen und freute sich, als endlich die Lichter von Denali vor ihr auftauchten, der kleinen Siedlung, die um den Eingang zum Nationalpark entstanden war. Einige Hotels, Motels und Restaurants, eine Tankstelle, mehrere Ferienhäuser und der Bahnhof der Alaska Railroad, das älteste Gebäude der Gegend. Sie bog nach Westen ab und folgte der Straße zum Nationalpark, fuhr am Besucherzentrum vor und folgte der Park Road bis zu den drei Meilen entfernten Park Headquarters.
»Sieben Uhr an einem eisigen Wintermorgen«, verkündete eine Stimme im Radio, bevor Julie den Motor abstellte und aus dem Wagen stieg, »und ich kann Ihnen schon mal sagen, dass die Temperaturen weiter fallen werden! Arktische Kälte ist angesagt, denn wenn Sie gedacht haben, der Winter würde uns diesmal verschonen, haben Sie sich leider verrechnet. Heute braucht sogar der Wetterfrosch einen Mantel. Kein Problem, wir haben heiße Musik …«
3
Julie schaltete das Radio aus und betrachtete sich prüfend im Innenspiegel, bevor sie ausstieg und geduckt über den verschneiten Parkplatz lief. Das Büro des Superintendent befand sich im Verwaltungsgebäude, einem verwinkelten Blockhaus mit einem spitzen Giebeldach über dem Eingang. Im Flur war es angenehm warm. Sie wischte sich den Schnee vom Gesicht und klopfte.
»Herein!« Die Stimme des Superintendent klang so energisch wie beim letzten Mal, als sie sich vorgestellt und um das Praktikum beworben hatte.
Julie betrat das Büro und begrüßte ihren neuen Vorgesetzten, der aufgestanden war und auf den Besucherstuhl deutete. John W. Green war ein imposanter Mann, groß gewachsen, die grauen Haare sauber gescheitelt, buschige Brauen über stahlblauen Augen. Seine maßgeschneiderte Uniform saß ihm wie angegossen. »Auf die Minute«, lobte er sie nach einem Blick auf seine Uhr, »bei den Rangern legen wir großen Wert auf Pünktlichkeit. Andere Leute mögen darüber lachen, aber uns erleichtert sie die Arbeit kolossal.« Er setzte sich und öffnete ihre Personalakte im Computer. »Julie M. Wilson, 21 Jahre, wohnhaft in Fairbanks, Highschool, College, Bachelor’s Degree in Naturwissenschaften, Erste-Hilfe-Kurs, weitere Kurse in Sports Management …« Er blickte vom Computer auf. »Sie bringen alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Ranger-Laufbahn mit, Miss Wilson. Aber noch wertvoller ist die Erfahrung, die Sie sich nur während eines Praktikums aneignen können. So habe ich auch mal begonnen.« Er lächelte. »Ist schon eine ganze Weile her. Damals war dieser Park wesentlich kleiner und hieß noch Mount McKinley National Park.«
»Bis er am 2. Dezember 1980 um beinahe die Hälfte vergrößert wurde«, ergänzte Julie lächelnd. »Ich habe die Bücher, die Sie mir empfohlen haben, eingehend studiert. Nicht nur wegen der schriftlichen Prüfung, die ich irgendwann ablegen muss, sondern vor allem wegen der Besucher, die hier vorbeikommen. Den Rangern fragen die Leute doch ein Loch in den Bauch.«
»Und es ist besser, man weiß auf jede dieser Fragen eine Antwort, das ist richtig.« Auch der Superintendent lächelte jetzt. »Ich sehe, wir verstehen uns. Sie passen gut zu uns, Miss Wilson … oder darf ich Julie sagen?« Sie nickte, und er fuhr fort: »Wir sind eine große Familie. Das mag ein bisschen abgeschmackt und wie eine Floskel klingen, aber so ist es tatsächlich. Einen ›eingeschworenen Haufen‹ nenne ich uns Ranger gern, denn nur, wenn sich einer auf den anderen verlassen kann, können wir auf einsamen Patrouillen oder Einsätzen im Hinterland bestehen. Denken Sie immer daran, Julie: Es gibt kaum einen Beruf, der in der Öffentlichkeit so angesehen ist wie der des Park Rangers, und es liegt an uns allen, diesem Image auch gerecht zu werden. Dass ein solcher Zusammenhalt feste Regeln erfordert, versteht sich von selbst. Ranger Schneider wird Sie über alles informieren und Ihnen auch Ihr Zimmer und die anderen Örtlichkeiten zeigen. Ich habe Sie für die Hundezwinger einteilen lassen, was nicht heißt, dass ich Sie nicht auch anderweitig einsetzen werde. Im Winter sind wir auf allen Positionen etwas schwächer besetzt, und Sie bekommen einiges zu tun. Gleich am Wochenende werden Sie Ranger Schneider begleiten und mit ihr eine Wandergruppe zum Denali führen. Ich hoffe, das ist in Ihrem Sinne.«
»Natürlich, Sir«, sagte sie eifrig. »Und ich freue mich vor allem auf die Arbeit mit den Hunden. Ich bin eine begeisterte Musherin …«
Draußen waren Schritte laut