Die Unwerten. Volker Dützer
Читать онлайн книгу.Brendel lächelte. »Ich denke wehmütig an unsere gemeinsame Zeit zurück, Malisha. Ohne Ihre Hilfe wären die Artikel nie erschienen. Ich gestehe ehrlich, ich vermisse unsere Zusammenarbeit. Aber es geht hier nicht um mich. Diese Kirche gehört nicht Hitler, sie ist Gottes Haus.«
Hannah bewunderte ihn für seine Standhaftigkeit. Kaum jemand wagte es, sich öffentlich gegen die Nazis zu stellen. Wenn es doch mehr Menschen wie ihn gäbe, wenn doch nur genug Leute aufstehen würden, dann könnten sie etwas bewirken.
Malisha stellte sich hinter Hannah und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Das ist meine Tochter. Hannah, ich darf dir Claudius Brendel vorstellen, einen sehr mutigen und aufrechten Menschen. Wir kennen uns schon lange, leider haben wir uns in den letzten Jahren aus den Augen verloren.«
Brendel reichte ihr die Hand zur Begrüßung. Sein Händedruck war warm und fest. »Endlich lerne ich dich kennen. Deine Mutter behütet dich wie ein Schatz vor den Gefahren dieser Zeit. Willkommen in meiner bescheidenen Kirche.« Er schaute sich missbilligend um. »Entschuldige die Unordnung. Wenn ich geahnt hätte, dass mich heute Nacht zwei so reizende Damen besuchen, hätte ich vorher aufgeräumt.«
Hannah spürte, dass sie bis in die Haarspitzen errötete. Sie strich sich unsicher eine Strähne aus dem Gesicht und war plötzlich furchtbar nervös.
»Das … das war se… sehr mutig von Ihnen«, stotterte sie.
»Ach was. Die Braunhemden sind allesamt Feiglinge.« Er runzelte die Stirn. »Aber dass sie es schaffen, friedliebende, gläubige Menschen derart aufzuhetzen, bereitet mir Sorge. Ihre Hetze vergiftet selbst Gemeindemitglieder, die ich für standhaft gehalten habe.«
»Was geschieht jetzt mit uns?«, fragte Hannah.
»Wir werden euch an einen sicheren Ort bringen«, antwortete Brendel.
»Zum Glück gibt es noch Geistliche, die nicht gewillt sind, mit den Nazis zu kollaborieren«, sagte Malisha.
Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören, sie hielt wenig von Rabbinern oder Priestern.
»Ich weiß, Sie haben nicht nur mit den Nazis schlechte Erfahrungen gemacht, sondern auch mit meinen Amtskollegen«, antwortete Brendel. »Es stimmt, in unseren Reihen gibt es Feiglinge, die ihren Kotau vor den Nazis machen. Aber ich kann dich beruhigen, Hannah. Ich verweigere niemandem meine Hilfe, wenn er ihrer bedarf, deine Mutter weiß das. Das Haus Gottes steht jedem offen, der in Not gerät.«
»Auch den Juden?«
Er lächelte. »Aber warum denn nicht? Irre ich mich, oder war nicht auch Jesus Jude? Und umgab er sich nicht mit Zöllnern und Aussätzigen?«
»Claudius ist ein außergewöhnlicher Mann«, sagte Malisha.
Hannah musste ihr zustimmen. Sehr außergewöhnlich. Sie schämte sich für ihre abgewetzten Schuhe, das vom Schlaf auf der Rücksitzbank zerzauste Haar und den abgetragenen Mantel. Verstohlen versuchte sie, ihre Frisur zu richten.
»Um auf deine Frage zurückzukommen, Hannah«, fuhr Brendel fort, »ich bin über den Ernst eurer Lage im Bilde. Joschi hat mir erklärt, was geschehen ist. Ihr müsst Deutschland so schnell wie möglich verlassen. Lubeck wird bald Anzeige erstatten.«
»Wir haben dafür gesorgt, dass er vorerst nicht reden kann«, sagte Malisha.
Joschi ballte die Fäuste und schnitt eine Grimasse, als hätte er Lubeck am liebsten umgebracht.
»Nein«, sagte Brendel zu ihm, »ihr habt richtig gehandelt. Ihn daran zu hindern, sofort zur Polizei zu gehen, reicht aus. Es verschafft uns den Vorsprung, den wir brauchen. Ihn zu töten, hätte rein gar nichts genutzt, denn ein Mord hätte die Gestapo umso schneller auf eure Spur gebracht. Außerdem wäre es eine große Sünde gewesen, ganz gleich, was er getan hat. Kommt jetzt, wir wollen die Zeit nutzen, die uns bleibt.«
»Joschi hat angedeutet, dass Sie einen Weg kennen, uns zur Flucht ins Ausland zu verhelfen«, sagte Malisha.
Brendel nickte. »Das stimmt. Wir müssen äußerst vorsichtig sein. Dass Lubeck euch auf den Fersen ist, erleichtert die Sache nicht gerade.«
»Sie kennen ihn?«
»Vom Hörensagen. Es gibt Gerüchte über eine Aktion, Kranke und Behinderte aus der Gesellschaft auszusondern, Lubeck soll als Gutachterarzt eine führende Rolle einnehmen. Er selbst ist das kleinere Problem. Ist Ihnen der Name Fritz Brunner geläufig?«
Malisha schüttelte den Kopf, auch Hannah hatte noch nie von ihm gehört.
»Landesrat Brunner ist der Leiter des Anstaltswesens in Hessen-Nassau. Ihm unterstehen sämtliche Kliniken und Pflegeeinrichtungen für körperlich und geistig behinderte Menschen. Brunner war von 1933 bis 34 Landeskirchenrat und ist inzwischen SS-Obersturmbannführer. Ich habe ihn als skrupellosen und intriganten Mann kennengelernt. Er schreckt vor keinem Mittel zurück, um seine Ziele zu erreichen.«
»Sie sind gut informiert, Claudius.«
»Ich verfolge sehr genau, was die Nazis hinter verschlossenen Türen planen.« Er lächelte. »Nicht nur Joschi verfügt über gute Kontakte.«
»Was wissen Sie über Lubeck?«, fragte Malisha.
»Er ist für Brunner ein serviler und strebsamer Untergebener, der ihm die Drecksarbeit abnimmt, und somit unentbehrlich für ihn. Lubeck wird seine Beziehungen ausnutzen, damit Brunner Druck auf die Polizei ausübt. In den nächsten Wochen wird man verstärkt nach Ihnen und Ihrer Tochter suchen. Sie sollten sich mit dem Gedanken anfreunden, eine Weile unterzutauchen.«
»Warum gehen wir nicht nach Amerika? Oder nach England?«, fragte Hannah.
»Die Nazis erschweren die legale Ausreise von Juden«, erklärte Brendel. »Nur wer bereit ist, seinen Besitz in Deutschland zurückzulassen, hat überhaupt eine Chance.« Er wandte sich an Malisha: »Verfügen Sie über Vermögen?«
»Alles, was wir haben, ist in dem Koffer dort.«
»Das dachte ich mir. Wir werden also dafür sorgen müssen, dass Sie so lange von der Bildfläche verschwinden, bis sich die Wogen geglättet haben. Darum wird Joschi euch zunächst an einen sicheren Ort bringen.«
Joschi gestikulierte erregt. Hannah konnte ihm kaum folgen.
»Nein, ich muss hierbleiben«, sagte Brendel.
Sie werden dich totschlagen.
»Ich kann meine Gemeinde nicht im Stich lassen.«
»Aber Sie wurden angegriffen«, beharrte Malisha.
»Wenn sich meine Schäfchen verirrt haben, ist es meine Pflicht, sie auf den rechten Weg zurückzuführen. Gott wird über mich wachen.«
»Gott schläft tief und fest«, sagte Malisha.
»Nun, dann träumt er von Ihnen«, meinte Brendel lächelnd. »Sie müssen jetzt aufbrechen.« Er wandte sich um. »Auf Wiedersehen, Hannah. Gott segne dich.«
Joschi mahnte zur Eile. Hannah war sicher, dass sie Brendel wiedersehen würde, und sie hatte das seltsame Gefühl, dass er in ihrem Leben eine größere Rolle spielen würde, als sie sich im Augenblick vorstellen konnte.
*
»Da stecken Sie ja in einer schönen Geschichte drin.«
Brunner lief wie ein Tiger im Käfig auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Lubeck starrte auf die Hand des Chirurgen, der einen Faden in eine Nadel einfädelte.
»Sich mit einer Jüdin einzulassen«, dröhnte Brunner. »Sind Sie noch ganz bei Trost? Das kann Sie den Kopf kosten.«
Lubeck zuckte zusammen und versteifte sich. Trotz der Betäubung spürte er, wie die Nadel in seine Wange eindrang. Vor den hohen Fenstern der Universitätsklinik dämmerte ein grauer Januarmorgen. Vor zwei Stunden hatte ihn der Hausbeschließer des Mietshauses in der Wilhelmstrasse entdeckt, blutüberströmt, gefesselt und geknebelt mit Stoffstreifen. Er hatte Borsig angerufen, der ihn in die Klinik