Die Unwerten. Volker Dützer

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Die Unwerten - Volker Dützer


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Polizei sucht Sie überall. Sie dürfen bis auf Weiteres das Kloster nicht verlassen.«

      »Er versprach, dass Sie uns zur belgischen Grenze bringen würden«, antwortete Malisha.

      »So war es geplant. Claudius schickt uns häufig Verzweifelte, die Deutschland verlassen müssen. Juden, Kommunisten oder einfach nur Andersdenkende, denen Verhaftung, Folter und Schlimmeres droht. Es reicht, ein falsches Wort zur falschen Zeit zu äußern oder auch nur Mitleid mit anderen Opfern zu zeigen, um als Staatsfeind verfolgt zu werden. Wir helfen, wo wir können. Die Menschen, die Joschi uns bringt, bleiben meist nur einige Tage hier im Kloster, bis sich die erste Aufregung gelegt hat und die Fahndung nach ihnen nachlässiger wird. Ihr Fall jedoch ist durch Hannahs Angriff auf Lubeck komplizierter.«

      »Dann gehen wir nach England?«, fragte Hannah hoffungsvoll.

      Die Oberin blickte sie an. Ihre hellblauen Augen passten nicht so recht zu den asketischen Zügen und den scharfen Falten entlang ihrer Mundwinkel. Sie besaß ein altersloses Gesicht, sie mochte fünfzig, ebenso gut hundert Jahre alt sein.

      »Das kann ich dir nicht sagen, denn ich weiß es nicht. Wir stehen mit Gleichgesinnten in Frankreich, Belgien und den Niederlanden in Verbindung, die euch an der Grenze abholen werden, aber wir wissen so gut wie nichts voneinander. Wer nichts weiß, kann nichts verraten.«

      »Wie lange müssen wir bleiben?«, fragte Malisha.

      »Mehrere Wochen wahrscheinlich. Es wird immer schwieriger, Deutschland zu verlassen, selbst abgelegene Grenzübergänge werden inzwischen überwacht. Die Zahl der illegalen Emigranten steigt von Tag zu Tag, und damit das Risiko, dass unsere Fluchtroute entdeckt wird. Wir müssen sehr vorsichtig sein.«

      »Warum tun Sie das?«, fragte Malisha, »warum begeben Sie sich in solch große Gefahr?«

      »Warum sollten wir es nicht tun? Es ist unsere Christenpflicht, Menschen in Not zu helfen. Viele führenden Kirchenvertreter haben sich mit den Nazis arrangiert. Sie glaubten, dass der Spuk rasch vorbei sein würde, aber sie irrten sich – wie so viele. Pfarrer Claudius handelt, wie es ihm sein Gewissen und sein Glaube vorgeben, und das tue ich auch. Wir können nicht anders.«

      »Haben Sie Dank für alles«, sagte Malisha.

      Die Oberin verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. »Ganz so selbstlos geht es bei uns hier nicht zu. Wir erwarten als Gegenleistung, dass Sie sich in das Klosterleben einbringen. Wir betreuen hier eine Gruppe von Behinderten und psychisch kranken Menschen. Jede helfende Hand wird gebraucht.«

      »Wir helfen gerne, nicht wahr, Hannah?«

      Hannah nickte abwesend. Mehrere Wochen! Sehnsuchtsvoll blickte sie aus dem Fenster. Hinter dem Bergrücken stieg eine blasse Wintersonne auf. Hannah liebte die Natur. Wie gerne streifte sie auf Wiesen und in Wäldern umher. Ob sie es aushalten würde, auf unabsehbare Zeit eingesperrt zu sein? Auch wenn die Mauern dazu dienten, sie zu schützen, würde das Warten eine harte Prüfung bedeuten.

      »Schwester Katharina wird euch in unseren Tagesablauf einweisen«, erklärte Schwester Agnes.

      Die Nonne mit den vorwitzigen schwarzen Locken trat genau im richtigen Moment ein. Ob sie gelauscht hatte? Bevor sie das Büro verließen, hielt sie die Stimme der Oberin zurück.

      »Mir wurde berichtet, dass Sie den jüdischen Glauben nicht praktizieren«, sagte sie zu Malisha. »Es würde uns freuen, wenn Sie Ihrer Tochter Gelegenheit geben würden, den unseren kennenzulernen. Sie sind uns selbstverständlich während der Andachten ebenso willkommen.«

      Malisha deutete ein Nicken an. Hannah kannte die Geste und wusste sie zu deuten: Ich werde es mir überlegen.

      Katharina erklärte ihnen das Klosterleben – sofern sie davon betroffen waren. Sie hatten sich an die Mahlzeiten zu halten und mussten den Nonnen bei der Pflege ihrer Schützlinge zur Hand gehen. Ansonsten waren sie sich selbst überlassen und wohnten in der Zelle im Gästetrakt. Hannah fügte sich in das neue Leben und hoffte, dass sie das Kloster schneller verlassen würden, als die Oberin befürchtete.

      Die Wochen verstrichen quälend langsam, eintönige Tage reihten sich endlos aneinander. Dreimal kam Joschi aus Frankfurt und wurde von Hannah stürmisch begrüßt. Bei seinem letzten Besuch brachte er schlechte Neuigkeiten. Claudius Brendel war verhaftet und zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil er gegen das Reichsflaggengesetz verstoßen hatte. Ein wichtiges Bindeglied der Hilfsorganisation war damit ausgefallen.

      Joschi sorgte sich um die Verbissenheit, mit der die Polizei sie suchte. Er stimmte mit der Oberin überein, dass es im Augenblick zu gefährlich war, ohne neue Papiere das Kloster zu verlassen.

      Schwester Agnes meinte dazu geheimnisvoll: »Ich kümmere mich darum.«

      Der Winter wollte nicht weichen und entpuppte sich als kältester seit Menschengedenken, bis tief in den März hinein lag Schnee. Die Nonnen diskutierten aufgeregt die ungewöhnliche, lang anhaltende Kälteperiode.

      Am 7. März feierte Hannah ihren fünfzehnten Geburtstag. Malisha hatte in der Klosterküche einen kleinen Kuchen gebacken. Hannah blies die Kerze aus.

      »Du hast einen Wunsch frei«, sagte Malisha.

      Hannah schloss die Augen und stellte sich den unendlich weiten blauen Himmel vor, einen Himmel mit schneeweißen Wolken wie Wattebäusche, in denen geheimnisvolle Bilder versteckt waren. Suchte man lange genug, entdeckte man immer mehr von ihnen. Oft hatte sie im Gras gelegen und hinaufgeblickt, um die Rätsel der Wolkenbilder zu lösen. Sie stellte sich vor, wie sie mit einem silbernen Flugzeug ihre Bahn durch den Himmel zog. Tief unter ihr schrumpften Städte, Straßen und Wälder zu einem bunten Flickenteppich. Über ihr strahlte die gleißende Sonne und überzog die Flügel des blitzenden Flugzeugs mit silbernem Licht. Eines Tages würde der Traum Wirklichkeit werden.

      »Ich möchte meinen Vater kennenlernen«, sagte sie.

      Malisha seufzte. »Ich habe dir doch erklärt, dass es nicht geht. Wünsch dir etwas anderes.«

      »Ein Stück Himmel«, versuchte sie weiter. »Nur für mich.«

      »Eines Tages wird er dir gehören«, antwortete Malisha, »bis zum Horizont, das verspreche ich.«

      Dem Geburtstagsmorgen folgte der gewohnte Tagesablauf. Nach dem Frühstück begaben sie sich in den nördlichen Trakt, in dem zwei Dutzend Kranke und Behinderte untergebracht waren. Schnell verlor Hannah die anfängliche Scheu und fand Gefallen an der zuweilen anstrengenden Arbeit. Die meisten Pfleglinge waren in ihrem Alter. Manche litten unter geistigen Beeinträchtigungen, andere verhielten sich autistisch und lebten in ihrer eigenen, nach außen abgeschotteten Welt. Ein Junge, der drei Jahre jünger war als Hannah, teilte ihr Schicksal. Seine epileptischen Anfälle jagten ihr Angst ein, denn sie waren schlimmer als alle, die sie selbst durchlebt hatte.

      Allen Patienten war eines gemeinsam: Obwohl sie unter teils erheblichen geistigen Beeinträchtigungen litten, erwiesen sie sich als überaus wertvoll für das Klosterleben. Jeder von ihnen besaß eine Eigenschaft, die ihn unverwechselbar machte. Gerade die Autisten unter den Erkrankten verblüfften Hannah mit schier übermenschlichen Leistungen. Oft schaute sie einem achtjährigen Mädchen zu, das immer dasselbe Motiv malte: die Stadt, in der sie gelebt hatte. Es erinnerte sich an die Positionen der Häuser und Straßen, an jedes einzelne Fenster und jedes Verkehrszeichen, an Busse, Züge und Gesichter. Oft saßen sie stundenlang zusammen und zeichneten. Hannah malte Karikaturen der Nonnen, die das Mädchen zum Lachen brachten. Als Malisha die Zeichnungen entdeckte, hielt sie ihr eine Strafpredigt, die sich gewaschen hatte. Sie argwöhnte, dass Schwester Agnes davon erfahren könnte und sie das Kloster würden verlassen müssen. Aber dann musste auch sie lachen.

      Ein anderer Junge sprach nie ein Wort, aber er kannte alle Kirchenlieder auswendig. Er schien das perfekte Gehör zu besitzen und konnte jedes Musikinstrument spielen, ohne zuvor üben zu müssen. Jeder von ihnen besaß ein verborgenes, einzigartiges Talent. Hannah machte es sich bald zur Aufgabe, die Kranken zu ermutigen, ihre Begabungen zu entwickeln, mochten sie zuerst noch so nutzlos erscheinen.

      Unter den Pfleglingen war ein Junge, der ihr im Lauf der Zeit


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