Die Unwerten. Volker Dützer

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Die Unwerten - Volker Dützer


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sich eine steile Falte.

      »Jetzt sind doch gar keine Ferien.«

      »Mein Onkel ist gestorben. Ich durfte zur Beerdigung herkommen.« Sie biss sich auf die Lippen, weil sie einen Fehler gemacht hatte. Wenn auf dem Land jemand starb, sprach sich sein Tod schnell herum. Der Junge musste wissen, dass niemand in der Nachbarschaft gestorben war.

      »Wo wohnt denn deine Tante?«, fragte er.

      Hannah überlegte fieberhaft. Sie kannte nicht eines der Dörfer mit Namen. Wenn sie auf das falsche zeigte, würde er sie sofort bei einer Lüge ertappen. Schließlich streckte sie den Arm aus und deutete auf eine Ortschaft, die in einer Senke zwischen zwei Waldstücken lag.

      »Seck«, sagte der Junge. »Ich komme aus Stahlhofen, mein Vater ist dort Bürgermeister.«

      Hannah senkte den Blick und starrte auf einen flachen Stein zu ihren Füßen. »Ich muss jetzt los.«

      »Man kann gar nicht vorsichtig genug sein, sagt mein Alter immer«, fuhr der Junge fort. »bei uns werden wir mit dem Judenpack schon aufräumen.«

      Ein Eichelhäher flog aus dem Gebüsch auf und krächzte. Der Junge hob einen Stein vom Boden, warf ihn nach dem Vogel und verfehlte ihn nur knapp.

      »Wie meinst du das?«, fragte Hannah. Die Frage kam wie von selbst über ihre Lippen.

      »Ich hab gehört, wie sich mein Vater mit dem Meissner unterhalten hat – der ist bei der SS. Mit zweiundzwanzig ist er schon Untersturmführer. Das schaffe ich auch! Er hat jedenfalls gesagt, dass die Juden bald abgeholt werden.« Er spuckte aus. »Gut so.«

      »Was geschieht denn … mit den Juden?«

      »So genau weiß das keiner. Der Meissner sagt, sie sollen umgesiedelt werden, damit sie sich nicht mit dem deutschen Volkskörper vermischen. Man muss auf die Reinheit des Blutes achten.«

      Er blickte sie misstrauisch an. »Wo kommst du eigentlich her?«

      »Aus dem Süddeutschen«, log sie, »von einem Bauernhof in den Bergen. Da kriegen wir nicht so viel mit, was in der Welt passiert.«

      Er sah sie zweifelnd an, gab sich aber offenbar mit der Antwort zufrieden.

      »Ich muss jetzt gehen«, sagte sie.

      Mit jedem Augenblick stieg das Risiko, dass sie sich verplapperte. Sie drehte sich um und ging den Weg zwischen den Wiesen entlang.

      »Nach Seck geht’s da lang«, rief der Junge.

      Sie spürte, dass ihr das Blut ins Gesicht schoss und zwang sich zu einem Lächeln. »Danke. Ich kenn mich hier nicht aus, war erst einmal hier. Und da war ich noch ganz klein.«

      Sie wandte sich in die Richtung, in die er deutete, und lief den gewundenen Weg entlang. Als der Junge außer Sicht war, schlug sie sich in die Büsche und wartete.

      Er schien ihr nicht zu folgen. Nach ungefähr einer Viertelstunde wagte sie sich aus ihrem Versteck. Er war nirgends zu sehen. So schnell sie konnte, lief sie durch die Felder auf das Kloster zu, schlüpfte durch die Pforte und stand heftig atmend im Kreuzgang. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie den Blumenstrauß vergessen hatte. Er musste zwischen den Büschen liegen. Wenn der Junge ihn fand, würde er sich fragen, warum sie ihn fortgeworfen hatte.

      »Hannah!« Malisha kam quer durch den Kräutergarten auf sie zu. »Jede Nonne im Kloster sucht nach dir. Wo bist du gewesen?«

      »Das würde ich ebenfalls gerne wissen.«

      Schwester Agnes stand wie aus dem Boden gewachsen vor ihr.

      »Ich … habe einen Spaziergang gemacht. Es ist so ein schöner Tag.«

      »Wir hatten vereinbart, dass du das Kloster nicht verlässt. Bist du jemandem begegnet?«

      Hannah senkte schuldbewusst den Kopf. Eine Lüge kam ihr nur schwer über die Lippen, sie weigerte sich einfach herauszukommen. Ihr war leicht schwindelig, an den Rändern ihres Blickfelds kroch die Finsternis heran. Seit Wochen hatte sie keinen Anfall mehr erlitten. Musste ihr blöder Kopf ausgerechnet jetzt seine Streiche spielen?

      »Nein«, sagte sie leise. »Ich bin vorsichtig gewesen. Niemand hat mich gesehen.«

      Die Oberin atmete erleichtert aus. »Die Menschen auf dem Land sind sehr neugierig. Wenn sie auf jemanden treffen, der ihnen fremd ist, fragen sie ihm ein Loch in den Bauch. Das kann schnell ins Auge gehen, wenn man auf den Falschen trifft. Es gibt nicht nur in der Stadt Nationalsozialisten. Mach das nie wieder!«

      Bei uns im Ort werden wir mit dem Judenpack schon aufräumen. Das waren die Worte des Hitlerjungen gewesen.

      »Komm jetzt«, sagte Malisha. »Joschi ist da. Er hat Neuigkeiten.«

      »Müssen wir noch lange bleiben?«, wollte Hannah wissen.

      »Genau darum geht es«, antwortete Malisha.

      »Deutsche Truppen sind im Morgengrauen in Luxemburg, Belgien und den Niederlanden einmarschiert«, sagte die Oberin. »Wir müssen eine andere Fluchtroute für euch finden.«

      »Wir hätten nicht so lange warten dürfen«, sagte Malisha.

      »Das Risiko war zu groß. Aber ich denke, wir haben einen Weg gefunden«, antwortete Schwester Agnes.

      Hannah und Malisha betraten hinter ihr die Eingangshalle des Hauptgebäudes.

      »Joschi!«

      Hannah lief auf den Riesen zu, der sie hochhob, herumwirbelte und zärtlich an sich drückte.

      »Wir sollten uns beeilen«, sagte die Oberin.

      Joschi stellte Hannah auf den Boden und nickte. Sie bemerkte einen schmächtigen Mann, der mit ihm gekommen war. Er nestelte an seiner randlosen Brille und trat nervös von einem Bein aufs andere. Sein abgewetzter, taubenblauer Anzug schlotterte um seine dünne Gestalt und war ihm mindestens zwei Nummern zu groß. Er hatte schütteres dunkelblondes Haar und trug einen altmodischen, an den Enden gezwirbelten Schnurrbart. In der linken Hand hielt er einen kleinen braunen Koffer.

      Nervös zupfte er Joschi am Ärmel. »Können wir jetzt mit der Arbeit beginnen? Ich muss noch heute Abend nach England zurück.«

      »Nach England?«, rief Hannah.

      »Wir werden deinen Vater um Hilfe bitten«, erklärte Malisha.

      Die Aussicht, ihn endlich kennenzulernen, ließ Hannahs Herz schneller schlagen.

      »Hier entlang.«

      Die Oberin führte sie in einen Raum im Kellergeschoss. Es gab einen Tisch, zwei Stühle und einen stockfleckigen Sisalteppich. Eine nackte Glühbirne unter der Decke spendete trübes Licht.

      Joschi stellte eine große Reisetasche auf den Tisch. Er zog den Reißverschluss auf und begann, ein Stativ aufzubauen. Hannah schaute zu, wie er einen elektrischen Scheinwerfer daran befestigte und das Kabel in eine Steckdose steckte. Grelles Licht flammte auf. Auf einem zweiten Stativ befestigte er eine Kamera und richtete sie auf die weiß getünchte Längswand des Kellers aus.

      »Wir brauchen neue Papiere«, erklärte Malisha. »Mister Smith wird sie uns verschaffen.«

      Joschi beschrieb in seiner Gebärdensprache, was geschehen würde.

      »Natürlich heißt er nicht wirklich Smith«, fuhr Malisha fort. »Aber er besitzt einen Diplomatenpass auf diesen Namen. Wir werden als seine Familie mit ihm reisen. Setz dich jetzt.«

      Smith stellte einen Stuhl vor die Wand. Hannah nahm darauf Platz und sah in das Objektiv der Kamera. Joschi korrigierte ihre Haltung, bis er zufrieden war, und drückte auf den Auslöser. Als Nächstes nahm Malisha Platz, die er ebenfalls fotografierte.

      »Wie werdet ihr den Film entwickeln?«, fragte Malisha.

      »Wir besitzen alles Nötige«, entgegnete die Oberin. »Offiziell nutzen wir die Gerätschaften für das Ablichten alter Dokumente unserer Bibliothek. Wir haben eine Dunkelkammer und einen Vergrößerer, um Abzüge herzustellen.


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