Die Unwerten. Volker Dützer

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Die Unwerten - Volker Dützer


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ihm in die Finger geriet. Hannah hatte lange gebraucht, um hinter deren Sinn zu kommen, und ihr mathematisches Talent hatte das Rätsel schließlich geknackt. Verblüfft hatte sie festgestellt, dass Ralfi eine enorme – wenn auch andersartige – Intelligenz besaß. Neugierig geworden, hatte sie ihm Rechenaufgaben gestellt, die für sein Alter viel zu schwer gewesen waren, und er hatte sie in Windeseile gelöst. Mathematik war die Sprache, in der er redete und die er verstand. Darüber hinaus fand er sich im Leben nicht zurecht. So scheiterte er an simplen, alltäglichen Dingen wie Zähneputzen. Allmählich bauten sie ein stilles, inniges Verhältnis auf und verstanden sich ohne Worte auf einer tieferen Ebene ihrer Seelen. Hannah stellte dem Jungen immer kompliziertere Aufgaben, die er begeistert löste und als eine Art Sprache benutzte, mit der er ihr seine Zuneigung zeigte.

      Die Abende waren lang und dunkel. Hannah wanderte durch die Korridore des Klosters, betrachtete die Bilder der Heiligen und sehnte sich nach Freiheit. An einem Nachmittag Ende April blieb sie auf einem ihrer Rundgänge neugierig vor einer halb offenen Tür stehen. Ringsum versank die Welt in Finsternis, Regen trommelte auf das Pultdach des Kreuzgangs.

      Zaghaft schob sie die Tür auf. Der Raum dahinter wurde von warmem Licht erhellt.

      »Hannah, du bist es! Komm nur herein!«

      Schwester Katharina trug einen Stapel Bücher zu einem Tisch. Ihre Locken quollen unter der Haube hervor.

      Neugierig blickte Hannah sich um. An den Wänden des großen Zimmers standen raumhohe Regale, selbst die Fensterwand war nur von zwei Nischen unterbrochen, um Tageslicht hereinzulassen. Unzählige Bücher waren teils in geordneten Reihen aufgebaut, teils in chaotischen Haufen aufeinandergestapelt. Dünne Bändchen mit schmalen Rücken wechselten sich mit mächtigen alten Folianten ab. Dies musste die Bibliothek des Klosters sein.

      Sie ging an den Regalen entlang, legte den Kopf schief und versuchte, die Titel zu entziffern. Viele Bücher waren auf Latein geschrieben, es gab eine Sammlung medizinischer Werke und Abhandlungen über Kräuter- und Heilkunde. Andere wiederum beschäftigten sich mit der Kirchengeschichte. Erbauliche Traktate standen zwischen Biografien von Päpsten und Heiligenlegenden.

      »Ich habe noch nie so viele Bücher auf einmal gesehen.« Ehrfürchtig strich sie an den Buchrücken entlang. Es roch nach altem Papier und Bücherleim, ein Geruch, den sie mochte.

      »Oh, für ein Kloster haben wir nur eine kleine Auswahl«, sagte die Nonne. »Hilfst du mir beim Einsortieren?«

      Katharina zeigte ihr, wo die Bände ihren Platz hatten. Hannah erkannte nach und nach die Ordnung in dem scheinbaren Durcheinander. Sehnsüchtig betrachtete sie die ungeheure Zahl von Büchern.

      »Liest du gerne?«, fragte Katharina.

      »Wir haben kein Geld, um es für Bücher auszugeben. Darum denke ich mir Geschichten aus.«

      Katharinas Augen leuchteten. »Du magst Geschichten? Dann wird dir das hier gefallen.«

      Sie ging an den Regalreihen entlang, blieb vor dem letzten Regal an der Fensterseite stehen und zog eine Bibel hervor, die in schlichtes Leder gebunden war. Im Einband steckte ein Schlüssel, mit dem die junge Nonne einen wuchtigen Schrank aufschloss. Er war vollgestopft mit weiteren Büchern. Hannah überflog die Titel und Namen auf den Buchrücken – Remarque, Lion Feuchtwanger, Thomas Mann und jüdische Autoren, von denen sie gehört hatte.

      »Warum sind diese Bücher eingeschlossen?«, wollte sie wissen.

      »Manchmal bekommen wir Besuch von Leuten, die mit den Nazis sympathisieren. Einmal war ein hoher Funktionär der Partei hier. Er machte mit seiner Frau Urlaub in der Nähe und wollte sich die Bibliothek anschauen. Viele dieser Bücher stehen auf der schwarzen Liste und dürfen nicht mehr verkauft werden. Wir kämen in Teufels Küche, wenn der Falsche diese Sammlung entdeckt.«

      Sie nahm ein Buch von Kurt Tucholsky heraus. Es hieß Schloss Gripsholm.

      »Wir haben so viele Exemplare gerettet, wie wir konnten. Du musst wissen, dass die Mutter Oberin Bücher über alles schätzt. Sie sagt, es sei eine Sünde, sie zu verbrennen.«

      Hannah blätterte in dem Buch und sog den Duft der abertausend Seiten ein, der sie aus dem Schrank anwehte.

      »Das ist eine Liebesgeschichte«, sagte Schwester Katharina augenzwinkernd. »Ich wette, du magst lieber Abenteuergeschichten.«

      Sie ging an den Regalen entlang, nahm mehrere Bücher heraus und legte sie auf ein Lesepult. Sie überlegte einen Moment und drückte Hannah eins in die Hand. Oliver Twist.

      »Du wirst Dickens lieben«, prophezeite Katharina. »Wenn du es ausgelesen hast, bringst du es mir zurück, und ich gebe dir ein anderes.«

      Hannah drückte das Buch an sich wie einen kostbaren Schatz. Endlich füllten sich die endlosen, kalten Vorfrühlingsabende mit einem sinnvollen Inhalt. Sie versprach, auf das Buch zu achten, und lief auf den Gang hinaus, in der Absicht, augenblicklich mit dem Lesen zu beginnen. An der Biegung des Korridors stieß sie mit einer anderen Nonne zusammen. Hannah ließ das Buch fallen, der Einband riss an der Bindung ein.

      »Ungeschicktes Kind! Sieh, was du angerichtet hast!«

      Die Nonne war etwa so alt wie Schwester Katharina, aber damit endete die Ähnlichkeit. Sie war klein und pummelig, hatte blassgrüne Augen und kniff die blutleeren Lippen zu einem harten Strich zusammen.

      »Wo hast du das Buch her? Ah, ich weiß, du hast es gestohlen. Juden stehlen dauernd, wenn man sie eine Sekunde aus den Augen lässt.«

      »Ich bin keine Jüdin.«

      Ihr Herz pochte heftig gegen die Rippen, zum ersten Mal seit Wochen stellte sich der vertraute Schwindel ein. Hastig bückte sie sich nach dem Buch und betrachtete den Schaden.

      »Kann man es reparieren?«, fragte sie leise.

      Die Nonne ging nicht auf ihre Frage ein. »Deine Mutter ist Jüdin«, stellte sie fest.

      »Aber ich nicht.«

      »Ah, du bist ein Bastard. Das wird ja immer schöner. Du kommst sofort mit zur Mutter Oberin.«

      »Ich habe das Buch nicht gestohlen.«

      »Widersprich mir nicht.«

      »Ich habe ihr das Buch gegeben.«

      Aus der Tür zur Bibliothek fiel Lichtschein auf den Boden, Katharina stand auf dem Gang.

      »Schwester Katharina, ich wusste nicht, dass …«

      »Nun weißt du es. Hannah hat mir geholfen, die ausgeliehenen Bücher zurückzustellen. Sie ist fleißig und hat ein bisschen Abwechslung verdient.«

      Die dicke Nonne zog die Mundwinkel nach unten. »Wenn du meinst.« Sie drehte sich um und lief mit eiligen Schritten den Korridor entlang.

      »Schwester Gertrud hat immer etwas zu meckern«, bemerkte Katharina leise. »Sie arbeitet mit mir in der Bibliothek. Sicher ist sie eifersüchtig, weil du vorübergehend ihren Platz eingenommen hast. Mach dir nichts draus. Geh jetzt zu deiner Mutter.«

      »Aber das Buch?«

      »Um den Einband kümmern wir uns morgen. Ich zeige dir, wie man ihn flickt.«

      Hannah presste das Buch an sich und lief in den Gästetrakt hinüber. Die dicke Nonne hasste sie, sie und Malisha, genauso wie es die Nazis taten. Gleich einem Virus, der in ihr schlief und unerwartet ausbrach, kehrte die Angst zurück.

      10

      Die nächsten Wochen verbrachte Hannah in fieberhafter Erwartung. Joschi brachte schlechte Nachrichten, die Polizei suchte noch immer nach ihnen. Die Situation der Juden in Deutschland verschlechterte sich mit jedem Tag, und damit die Aussicht, das Land verlassen zu können. England, Frankreich und Amerika weigerten sich, die große Zahl von Emigranten aufzunehmen. Viele Juden irrten auf der Suche nach Zuflucht durch Europa. Auf dem Mittelmeer kreuzten Schiffe mit Flüchtlingen wochenlang, ohne die Erlaubnis zu erhalten, einen Hafen anzulaufen. Joschi hatte versucht, Hannah in einem der Kindertransporte unterzubringen, die der Londoner


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