World Runner (1). Die Jäger. Thomas Thiemeyer

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World Runner (1). Die Jäger - Thomas Thiemeyer


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      »Allerdings sind das nur Buchstaben«, räumte Emily kleinlaut ein. »Was wir brauchen, sind Zahlen. Ich habe keine Idee, wie man …«

      »Buchstabenwahl«, platzte Farid heraus. »Das könnte es sein!«

      »Das verstehe ich nicht«, sagte Emily.

      »Ich schon.« Tim sprang von seinem Stuhl hoch und rannte zum Telefon.

      Wieso war er nicht selbst darauf gekommen?

      Da waren sie. Schön sauber aufgereiht und die ganze Zeit direkt unter seiner Nase. Das Tastenfeld umfasste vier Reihen zu je drei Tasten. Die Tasten zwei bis neun waren zusätzlich mit Buchstaben markiert. Die Eins hatte keine, dafür standen bei der Zwei die Buchstaben A, B und C. Hastig überschlug er das Ergebnis im Kopf und kam auf ein Ergebnis. »9934. Meinst du, das könnte es sein?«

      Farids Wangen glühten.

      »Könnt ihr mir endlich mal erklären, was los ist?« Emily schob schmollend die Unterlippe vor. Tim ging in die Hocke und legte den Arm um seine kleine Schwester. »Sieh mal, es gibt eine Methode, Rufnummern durch Buchstabenfolgen darzustellen. Siehst du die kleinen Buchstaben unter den Zahlen?«

      Sie nickte.

      »Das stammt aus dem Amerikanischen und dient dazu, Wörter statt Zahlen einzutippen. Wenn du in den USA lebst und mit der NASA verbunden werden willst, wählst du das N, das A, das N und noch mal das A. Auf diese Weise können Rufnummern als Begriffe dargestellt werden und man kann sie sich leichter merken. Genial, oder?

      Emily lächelte. »Dann meint ihr also, ich könnte recht haben?«

      Tim nickte grimmig. »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.«

      8

      Wer an einem Samstagabend über die Hohenzollernbrücke ging, musste schnell erkennen, dass es beinahe unmöglich war, unbemerkt irgendetwas zu tun. Unauffällig über eine Absperrung zu klettern, zum Beispiel, so wie Tim und Farid es vorhatten. Das schien angesichts der Masse von Touristen und Besuchern beinahe aussichtslos. Chinesen, Japaner, Amerikaner, Franzosen – sie alle strömten auf die gegenüberliegende Rheinseite, um von dort einen Panoramablick auf den Dom und die umliegende Altstadt zu genießen. Die beleuchtete Kathedrale im Sonnenuntergang war ein besonders beliebtes Motiv. Aber Tim fand es irgendwie verrückt, dass absolut jeder einzelne Tourist aus diesen Reisegruppen ein und dasselbe Foto aufzunehmen schien.

      Und dann waren da noch die Schlösser. Sie hatten sich inzwischen zu einem Publikumsmagneten gemausert. Angebracht von Liebespaaren, hingen inzwischen über hundertsiebzigtausend davon an der Brücke. Sie brachten über fünfzig Tonnen auf die Waage und man musste kein Statiker sein, um zu ahnen, dass dies auf Dauer die Stabilität der Brücke gefährdete. Als bekannt wurde, dass die Deutsche Bahn sie entfernen lassen wollte, war ein solcher Aufschrei durch die Medien gegangen, dass die Pläne zurückgestellt wurden – allerdings unter der Auflage, keine weiteren Schlösser dort anzubringen. Tim konnte sich ohnehin nicht vorstellen, wo hierfür noch Platz sein sollte.

      Eine geschlagene Stunde musste er mit Farid und Emily warten, bis sich endlich eine Gelegenheit bot, über die Brückenabsperrung zu klettern. Tim hatte Emily verboten, ihnen zu folgen. Er würde es sich nie verzeihen, wenn ihr etwas passierte. Zum Glück fand sie an ihrer Rolle als Wachtposten Gefallen. Sie würde die Jungs warnen, wenn irgendjemand dumme Fragen stellte. Tim hakte seinen Klettergurt ein und stieg über die brusthohe Absperrung. Unter die Brücke zu gelangen, war ohne Gurt unmöglich.

      »Komm«, zischte er Farid zu, »beeilen wir uns. Der Mechanismus ist bereits aktiv.« Er umfasste den Stahlträger und ließ sich an seinem Gurt unter das Deckengerüst gleiten. Farid folgte ihm. Es war jetzt viel einfacher als beim letzten Mal, weil sie den Weg bereits kannten. Jeder Handgriff saß. Vergleichsweise schnell tauchte die gelbe Box in ihrem Sichtfeld auf. Das Lämpchen blinkte rot und gleichmäßig.

      »Ich hoffe bloß, dass wir keinen Berechnungsfehler gemacht haben«, sagte Farid. »Ansonsten müssen wir zurück ans Reißbrett.«

      »Es wird funktionieren.« Tim atmete tief ein und ließ sich auf den Brückenpfeiler runtergleiten. »Glaub mir, es wird funktionieren.«

      Heute waren keine Tauben da. Die vielen Passanten schienen sie verscheucht zu haben. Die Schritte über ihren Köpfen klangen wie das Prasseln von Hagelkörnern auf Metall.

      »Wieso weiß Emily eigentlich von unserem Geheimnis?«, fragte Farid. »Hatten wir nicht abgemacht, kein Wort zu niemandem?«

      »Sie hat mich erpresst«, knurrte Tim, während er seinen Gurt ablegte. Ab dieser Stelle würde Tim ohne Klettergurt zurechtkommen müssen. »Hat damit gedroht, mich an Dad zu verpfeifen. Und ich kenne sie gut genug, um das ernst zu nehmen.«

      »Ganz schön clever, die Kleine«, sagte Farid. »Meine beiden Schwestern haben nie rausbekommen, was ich in meiner Freizeit so treibe. Und dann löst Emily einfach so unser Killerrätsel.«

      »Zufallstreffer«, entfuhr es Tim. Dabei war er sich gar nicht sicher, ob das wirklich stimmte. Farid hatte recht, Emily war wirklich ziemlich clever. Es wäre dumm, auf ihre Hilfe zu verzichten. »Lass loslegen.« Er zog die Handschuhe stramm und sein Mundtuch hoch. »Lass die Kamera laufen.«

      Die Panik setzte ein, als Tim sich von dem rettenden Pfeiler abstieß und frei in der Luft baumelte. Bereits nach einem Meter glaubte er, nicht mehr atmen zu können. Nach dem zweiten war er schweißgebadet. Dieses Mal kannte er den Weg, wusste, wo er entlanghangeln und welchen Hindernissen er ausweichen musste. Doch je weiter er kam, desto stärker wurde das Gefühl, sich nicht mehr halten zu können. Wieder und wieder blitzte der Moment vor seinem geistigen Auge auf. Er fühlte, wie er den Halt verlor und abstürzte. Er glaubte sogar, den Fallwind zu spüren. Farid wunderte sich bestimmt, warum er so lange brauchte. Aber sein Freund saß ja auch sicher und geborgen auf dem Pfeiler.

      Tim hatte das Gefühl, seine Arme wären aus Butter, die Finger zerbrechlich dünn. Ihm fehlte sein MP3-Player. Ohne seine Musik hörte er nur noch sein eigenes Keuchen und das Rumpeln der Bahn, die über die Gleise fuhr. Alles fing an zu vibrieren.

       Schau nicht nach unten, schau nicht nach unten.

      Und dann tat er es doch. Und er erschrak: Ein Schiff fuhr geradewegs unter ihm durch. Kein Lastenschiff, sondern eines dieser kleineren Partyschiffe. Menschen standen auf dem Achterdeck, unterhielten sich. Er hörte eine Band spielen. Einige Passagiere tanzten. So ein Mist. Wieso hatte er vorhin nicht Ausschau nach herannahenden Schiffen gehalten? Er war einfach blindlings losgestürmt, hatte sämtliche Vorsichtsmaßnahmen außer Acht gelassen. Und Farid? Der hatte nur Augen für sein Handy. Wenn Tim jetzt losließ, würde er genau auf dem Vorderdeck aufschlagen. Das war’s dann. Den Aufprall würde keiner seiner Knochen unbeschadet überstehen.

      Kalter Schweiß brach ihm aus. Am liebsten wäre er umgekehrt, aber dann würde er alles verlieren, was er sich aufgebaut hatte. Sämtliche Sponsoren würden sich von ihm abwenden, die Top 100 konnte er dann ebenfalls vergessen. Sosehr es ein Teil von ihm wollte, er durfte jetzt nicht aufgeben.

      Er musste …

      Er musste …

      »He, seht mal, da oben hängt einer an der Brücke.«

      »Was sagst du?«

      Stimmen drangen von unten zu ihm herauf, wurden aufgeregter.

      »Seht selbst, da hängt einer.«

      »Stimmt, du hast recht. Ist das ein Hochseilartist?«

      »Ist bestimmt eine Werbeaktion.«

      »Glaube ich nicht. Da ist kein Sicherungsseil. Der Typ hängt nur an seinen Armen.«

      Tim sah, wie die Leute sich unter ihm zusammenrotteten. Immer mehr kamen aufs Deck, um zu sehen, was oben an der Brücke vor sich ging.

      »He, Junge, was machst du denn da? Bist du bescheuert oder was?«

      »Ich glaube, der will sich umbringen.«

      Die Stimmen wurden lauter, gingen wild durcheinander.


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