World Runner (1). Die Jäger. Thomas Thiemeyer
Читать онлайн книгу.Tim seufzte. Es war schwerer, als er sich das vorgestellt hatte. Am besten, er zeigte es ihr. Er öffnete die Seite und gab sein geschütztes Passwort ein. Es dauerte eine Weile, dann ploppte das gelbe Logo auf blauem Untergrund auf.
»He, das kenne ich«, rief Emily. »Das war die Seite, die Max uns gezeigt hat.«
»Mit deinem Max muss ich mal ein Wörtchen reden«, sagte Tim ungehalten. »Diese Seite ist eigentlich nur für Spieler und Gäste. Und ich glaube kaum, dass Max dazugehört. Er ist noch viel zu jung. GlobalGames darf erst ab zwölf gespielt werden. Strenge Alterskontrolle. Außenstehende haben da keinen Zutritt. Aber ja, da hast du das Video gesehen.«
»Es ist nicht mehr da.« Enttäuscht deutete sie auf die Startseite.
»Doch, nur weiter hinten. Jeden Tag kommt etwas anderes dazu. Siehst du, da ist es. Schon zweiundfünfzigtausend Klicks. Na ja, jedenfalls ist das unser Medium. Damit verständigen wir uns. Hier treffen sich alle Spieler, diskutieren über neue Claims, unlösbare Rätsel und besondere Schätze. Und hier können wir sehen, wo wir gerade stehen.« Er klickte auf das Scoreboard. Sein Name stand auf Position 108. Seit gestern hatte er sich um zwölf Plätze verbessert.
»Siehst du, das bin ich.«
»Achenar? Komischer Name.«
»Ist ’ne Figur aus einem alten Computerspiel. Na ja, jedenfalls, wenn du da draufklickst, öffnet sich meine Spielerseite und du kannst alles über mich erfahren. Auf welcher Position ich stehe, welche Claims und Secrets ich bereits gelöst habe und seit wann ich dabei bin. Hier findest du sämtliche Videos von mir und die dazugehörigen Beschreibungen.«
Emily machte große Augen. »Das sind aber viele …«
»Jep. War ja auch viel unterwegs.« Er grinste. Schnell schloss er die Seite, ehe Emily all die halsbrecherischen Stunts sehen konnte, die er schon vollführt hatte. Er wollte ihr schließlich keine Angst einjagen.
»Damit kennst du jetzt also auch unsere Seite. Wie gesagt, hier posten wir, treffen unsere Sponsoren, tauschen uns mit Freunden aus und so weiter. Wenn wir einen Claim entdecken, wenn wir ihn gelöst und den Videobeweis erbracht haben, müssen wir ihn an derselben Stelle verstecken, um anderen Runnern die gleichen Chancen zu geben. Das ist Regel neun. Zehn ist, dass wir Freunde einladen und versuchen, sie für das Spiel zu begeistern. Was ich hiermit getan habe.« Er lächelte grimmig. »Das soll als Einführung genügen. Jetzt weißt du, was du wissen musst, und kannst aufhören, dumme Fragen zu stellen.« Er wollte sie von seinem Platz verscheuchen, doch sie kam ihm zuvor.
»Was ist das da?« Sie deutete auf die obere rechte Ecke des Menübalkens, in der etwas blinkte.
»Das ist mein Postfach. Hier können Spieler anderen Spielern private Nachrichten zukommen lassen.«
»Dann hast du also Post bekommen?«
»Sieht so aus, ja …«
»Willst du sie nicht aufmachen?«
»Sobald du verschwunden bist.«
»Ich will aber wissen, was drinsteht.« Blitzschnell klickte sie auf die Mail.
Blaue Schreibschrift auf weißem Untergrund. Eingerahmt war der Brief mit pulsierenden rosa Herzchen.
Emily kicherte. »Hast du eine Freundin?«
»Quatsch …« Tim war zu überrascht, um ärgerlich zu sein. Stattdessen überflog er die Zeilen. Glückwunsch, stand da zu lesen. Das war ein erstklassiger Fußklatscher. Würde mich freuen, wenn du mein Rätsel als Erster löst. Bist du schon darauf gekommen? Du weißt ja: »Nimm Zwei«. Runner-Grüße, Sakura.
Er hob überrascht die Brauen, sein Herz schlug schneller. Der Brief war von ihr!
Emily beobachtete ihn aufmerksam. In ihren Augen leuchtete die pure Neugier.
»Wer ist Sakura?«
6
Annikas Hände glitten voller Gefühl über die Klaviertasten. Mal schlug sie fester an, dann berührte sie sie ganz zart. Durch ihre Finger wurde sie eins mit dem Instrument, als würden die Töne durch sie hindurchgleiten. Es gab Musikstücke, die man nur ein einziges Mal zu hören brauchte, damit sie sich unauslöschlich ins Gedächtnis brannten.
Beethovens Klaviersonate Nr. 14 in cis-Moll, die sogenannte Mondscheinsonate, war eines dieser Stücke. Drei Sätze, einer virtuoser als der vorangegangene. Und anspruchsvoller. Franz Liszt, der selbst ein großartiger Klaviervirtuose war, hatte seinen Schülern nie erlaubt, die Sonate zu spielen. Sie war zu schwierig und er hasste es, wenn sie schlecht gespielt wurde.
Annika bereitete das Stück keine Probleme. Sie spielte es seit ihrem elften Lebensjahr. Wenn man den Worten ihrer Lehrerin glaubte, hatte ihr Spiel eine Kunstfertigkeit erreicht, die selten zu finden war. »Du musst aufs Konservatorium«, wiederholte Madame Abramovic gebetsmühlenartig mit schwerem russischem Akzent. Sie unterrichtete Annika, seit sie sieben war. »Du musst, hörst du? Ich unterrichte seit dreißig Jahren und habe etliche Meisterschüler ausgebildet. Doch du übertriffst sie alle. Du könntest eine der besten werden, wenn du nur willst. Aber dafür musst du mehr üben. Sieh mir in die Augen, Anuschka, Schätzchen. Versprich mir, dass du mehr üben wirst. Vier Stunden täglich. Minimum!«
Doch es gab ein Problem: Annika wollte nicht. Auch wenn sie in der Schule keine Probleme hatte, musste sie doch dafür lernen. Vor allem für die Naturwissenschaften.
Schule und Musik zusammen waren dann doch ein ziemlicher Zeitfresser. Beethoven hin oder her, das Leben hatte so viel mehr zu bieten als Klaviertasten und Lernen.
Zum Beispiel GlobalGames. Neben Fechten ihre große Leidenschaft. Hier konnte Annika sie selbst sein, brauchte sich nicht schick zu machen, um vor alten Leuten das dressierte Äffchen zu spielen. Hier durfte sie Turnschuhe tragen, Jogginghose und Sweatshirt. Sie durfte schwitzen, stinken und Rockmusik hören, Schätze bergen und Schätze legen. So lange, bis ihr die Arme abfielen. GlobalGames bedeutete für sie Adrenalin pur. Etwas, das mehr war als nur ein Spiel – eine eigene Welt. Allerdings eine, die ihre Eltern niemals verstehen würden, weswegen Annika erst gar nicht versuchte, es ihnen zu erklären. Die beiden dachten immer noch, sie würde die Woche zweimal brav zum Tennis gehen. Eine Notlüge, die nur deswegen funktionierte, weil ihre Freundinnen fest zu ihr hielten. Sie hatten Annika eine Scheinidentität gebastelt, die jeder Überprüfung standhielt. Wohl dem, der solche Freundinnen besaß und keine nervigen Geschwister, die einen bei jeder sich bietenden Gelegenheit anschwärzten.
Annika war gerade beim Presto agitato angelangt, dem dritten und letzten Satz, als sie aus der Ferne das Läuten der Türglocke hörte. Sie ignorierte es und konzentrierte sich auf die Musik. Die Melancholie des ersten Satzes war einer tosenden, ungezähmten Sehnsucht gewichen, die sie von einem emotionalen Höhepunkt zum nächsten jagte.
»Annika!«, ertönte die Stimme ihres Vaters aus dem Flur. »Annika!«
Boah, Papa nervte heute. Aber an Samstagen war es besonders schlimm. Wenn er nicht zur Arbeit gehen durfte, wusste er kaum etwas mit sich anzufangen.
»Sag mal, bist du taub?«
Papa war in der Tür erschienen, ein vorwurfsvoller Ausdruck auf seinem Gesicht. Die Hände hatte er theatralisch in die Hüften gestemmt. Dass er so mitten in ihr Klavierspiel hineinplatzte, war typisch: Die Musik selbst bedeutete ihm im Grunde nichts.
Entnervt ließ sie ihre Hände auf die Tasten sinken. »Was gibt es denn?«
»Post für dich. Der Paketbote.«
Verwundert sah sie ihn an. »Warum hast du das Paket denn nicht einfach für mich angenommen?«
»Es ist eine persönliche Zustellung an dich, da, schau …«, er wedelte ungeduldig mit einem Zettel vor ihrer Nase herum. »Du musst es selbst entgegennehmen und hier was unterschreiben.«
Annika brauchte einen Moment, um aus der Welt der Musik zurück in die Realität zu finden. Sie drückte sich hoch und lockerte ihre verspannten Schultern. Auf dem Weg in Richtung Tür warf