Evolution Bundle. Thomas Thiemeyer

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Evolution Bundle - Thomas Thiemeyer


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Pfeil seine Bahn. Mareks Unterkiefer klappte runter.

      Jem hielt den Atem an.

      Zu weit rechts, zu weit rechts, dachte er. Das kann nicht gut gehen …

      Eine Windböe fegte durch die Wipfel und ließ wie von Zauberhand ein Loch zwischen den Zweigen entstehen. Gerade lang genug, um den Pfeil ungehindert passieren zu lassen. Zischend traf das Projektil die Brust des Raben.

      Der alte Vogel stieß einen keuchenden Laut aus. Einen Moment hielt er sich noch an den Ast geklammert, dann fiel er. Fiel, fiel und fiel – bis er genau vor ihren Füßen landete.

       Ein Meisterschuss!

      Über ihren Köpfen kehrte Ruhe ein. Das wütende Keifen, das hektische Flattern und schrille Schreien hatten einfach aufgehört. Einen atemlosen Moment lang war alles still. Dann stoben die Vögel auf. Als hätten sie ein unsichtbares Signal vernommen, flatterten sie davon, stiegen als schwarze Wolke in die Höhe und verteilten sich in sämtliche Himmelsrichtungen.

      Direkt am Eingang zum Wäldchen entdeckte Lucie einen pinkfarbenen Fleck im Blattgrün. Er war gut hinter einem Busch versteckt, sodass sie ihn erst beim zweiten Hinsehen richtig zuordnen konnte. Es war eine Tasche. Und zwar nicht irgendeine, sondern Connies Umhängetasche.

      Das Leder sah ziemlich ramponiert aus. Ob vom Sturz oder von etwas anderem, war schwer zu sagen. Waren die langen Kratzer darauf vielleicht Spuren von scharfen Krallen?

      Lucie schlug das Herz bis zum Hals. Das Blut pochte in ihren Ohren. Ein schwefelgelber Schleier aus Angst und Verzweiflung senkte sich auf sie herab.

      Mit klopfendem Herzen machte sie sich auf den Weg durch das dichte Unterholz. Lianen hingen von den Zweigen, krallten sich in ihr Haar und zerrten an ihrer Kleidung. Wurzeln krochen aus der Erde und schnappten nach ihren Fußgelenken. Mehr als einmal stolperte sie, weil sie eine Wurzel nicht gesehen hatte. Die gesamte Vegetation schien sich gegen sie verschworen zu haben. Fast hätte man auf den Gedanken kommen können, dass etwas ihr absichtlich ein Bein gestellt hätte.

      Panisch schlug sie Blätter und Zweige zur Seite und stürmte durchs Unterholz. »Connie, verdammt noch mal. Jetzt gib mir doch irgendein Zeichen. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, sag …«

      Wie angewurzelt blieb sie stehen.

       Connie!

      Da war sie. Genau vor ihr. Hing in etwa drei Meter Höhe rücklings von einem Ast und winkte ihr zu. Sie musste ein ziemliches Hohlkreuz machen, um in so einer Position überhaupt über einem Ast zu liegen. War das nicht verflucht unangenehm?

      Lucie wagte nicht, näher zu gehen. Was zum Geier tat sie da oben? Und warum winkte sie ihr zu?

      Ihr Blick wanderte weiter hoch.

      Die Aura änderte sich von Schwefelgelb zu Dunkelrot. Blutrot, um genau zu sein. Lucie fühlte, wie ihre Welt aus den Fugen geriet. Nichts würde wieder so sein, wie es vorher war.

      Connie winkte, aber sie tat es nicht aus eigenem Antrieb. Sie wurde bewegt! Etwas hockte auf ihrer Brust. Trank, fraß – und war von Lucies Eintreffen sichtlich genervt. Grasgrüne Augen, blutrote Schnauze, Fangzähne so lang wie Taschenmesser.

      Der Berglöwe zog die Lefzen nach hinten und stieß ein grauenvolles Knurren aus. Offenbar hatte er Connie mit viel Mühe dorthinauf geschleppt und würde sie nicht kampflos hergeben.

      Lucie spürte ihre Füße nicht mehr. Es war, als stünde sie auf Treibsand, der sie mehr und mehr in die Tiefe zog.

      Ein Blitz zuckte auf. Donner rollte über die Stadt. Die ersten Tropfen fielen.

      Der Berglöwe schlug Connie die Krallen in die Brust und zog ihren Leichnam ein Stück weiter hinauf. Dorthin, wo das Blattwerk dichter und trockener war.

      Dann widmete er sich weiter seinem Mahl.

      Der Regen fiel jetzt kräftig und ausdauernd.

      Noch immer war Lucie nicht fähig, sich zu rühren. Ihre Gedanken waren wie eingefroren. Der Grund war nicht so sehr das grausige Schauspiel des Jägers und seiner Beute. Es war auch nicht die Erkenntnis, dass Connie tot war und ihr Arm noch immer seltsam winkende Bewegungen ausführte. Was sie so aus der Fassung brachte, war das, was sich hinter den beiden befand. Dort, wo die Dunkelheit regierte.

      Sie hatte erst vor Kurzem einen Artikel darüber gelesen, dass der Mensch von Grüntönen mehr Schattierungen wahrzunehmen vermochte als von jeder anderen Farbe. Offenbar hatte es damit zu tun, dass der Ursprung des Menschen im Wald lag. Das schlanke Affenwesen von damals war darauf angewiesen, Angreifer rechtzeitig zu erkennen und ihnen zu entgehen. Deshalb hatte es eine besondere Empfindlichkeit gegenüber Grüntönen entwickelt. Eine Eigenschaft, die bis heute erhalten geblieben war. Und es war ebendieser Sinn, der ihr sagte, dass etwas nicht stimmte.

      Im Schatten des Baumes war eine Bewegung zu sehen. Äste und Zweige krümmten sich, als würde man sie durch ein gewölbtes Glas betrachten. Irgendetwas hockte dort und imitierte perfekt den Hintergrund. Es war riesig und hatte bestimmt einen Durchmesser von drei Metern. Die Ränder dieses Dings waren unregelmäßig geformt und es war schwierig abzuschätzen, wo es anfing und wo es endete. Seine Bewegungen waren fließend. Es schwamm regelrecht durch den Baum.

      Der Berglöwe bemerkte den Fremdling hinter sich, stieß ein sanftes Knurren aus und widmete sich dann wieder seiner Beute. Er schien überhaupt keine Angst zu verspüren. Seine Aura leuchtete jetzt in einem warmen, sanften Auberginenton. Von ihm ging keine Bedrohung aus.

      Es war das Ding dahinter, das Lucie zu schaffen machte. Im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen – Menschen eingeschlossen – besaß es keine klare Aura. Es war weder kalt noch warm, weder laut noch leise, weder traurig noch fröhlich noch hasserfüllt oder liebevoll. Es war alles und nichts.

      Ein Kaleidoskop aus Farben.

      Ein Regenbogen aus Tönen.

      Ein Wasserfall aus Gefühlen.

      Es war einfach zu viel für Lucie. Der erstickte Schrei, der bereits seit geraumer Zeit in ihrer Kehle festgesteckt hatte, brach endlich hervor und übertönte das Rauschen des Regens. Die Luft schmeckte nach Blut. Lucie spürte, dass sie sterben würde, wenn sie nicht augenblicklich diesen Ort verließ. Es war eine Botschaft, die sie aus dem Labyrinth der Farben herauslesen konnte. Eine Stimme in ihrem Kopf.

       Gehe deinen Weg.

       Sss…singe dein Lied, tanze deinen Tanz.

       Renne dorthin zzz…zurück, woher du gekommen bist, und kehre nie wieder zzz…zurück.

      Waren die Worte echt oder waren sie nur Einbildung?

      Mit zugeschnürter Kehle und panisch rasendem Herzen rannte sie durch das Unterholz hinaus ins Licht.

      Bennett keuchte schwer. Er fühlte ein Pochen in seinem Schädel, schmeckte Rost auf seinen Lippen. Immer wieder blickte er sich um, während er das Rad durch die verwilderten Straßen rollte.

      Er wurde verfolgt, so viel stand fest. Aber von wem? Er meinte, etwas Vierbeiniges gesehen zu haben. Wölfe, Hunde? Oder waren es Schakale oder Kojoten?

      Einige Meter voraus endete die Straße. Ein paar verbogene Laternen, ein umgestürztes und überwuchertes Denkmal – dort musste er abbiegen.

      Mit zitternden Fingern prüfte er Jaegers Waffe. Das Magazin war noch voll. Sollten sich diese Biester mit ihm anlegen wollen, würde er keine Sekunde zögern.

      Erste Tropfen fielen. Der Himmel im Westen war eine einzige stahlgraue Wand. Bis zum Bahnhof war es nicht mal mehr ein Kilometer. Er überlegte, ob er das Rad stehen lassen und einfach rennen sollte. Aber dann musste er irgendwann zurück


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