Sechs utopische Thriller. Conrad Shepherd
Читать онлайн книгу.Haan hockte an einem Tisch am Fenster, war im Augenblick der einzige Gast.
Als er zu dem Piloten hinüberging, blickte der grinsend hoch.
»Da sind Sie ja, Doktor! Wollte Sie gerade wecken lassen. Wie wär's mit etwas zu essen?«
Conroy lehnte ab. »Danke, für mich nicht.«
»Dann etwas zu trinken, Doktor?«
»Wenn es die Küche nicht überfordert – Tee.«
»Natürlich.« Haan winkte dem Kellner, der in der Nähe stand und stoisch darauf wartete, dass sich etwas tat. »Bitte Tee, Ochia!«
Conroy setzte sich Haan gegenüber. Sie schwiegen, bis der Tee kam.
Der Kellner servierte ihn in hauchdünnen Porzellanschalen und auf einem silbernen Thali, dessen wundervoll ziselierter Rand nach oben gebogen war und ein Lotosblütenblatt andeutete.
»Scheint genau die richtige Nacht für uns zu sein«, sagte Conroy und schaute durch das Fenster hinter Haan auf die mondbeschienene Landschaft.
Der Pilot kicherte leise. »Könnte wirklich nicht besser sein«, gestand er, »Bei dem Mondlicht komme ich wie geschmiert über die Pässe. Sie werden sehen.«
»Hoffentlich haben Sie recht.« Conroy trank einen Schluck von dem kräftigen grünen Tee.
»Natürlich habe ich recht. Ich habe stets recht mit meinen Prognosen. Wissen Sie, im Krieg bin ich über zweihundert Einsätze geflogen. Immer, wenn sich etwas Unangenehmes ereignete, hatte ich vorher ein ungutes Gefühl. Erbe meiner grönländischen Urgroßmutter mütterlicherseits – oder war es väterlicherseits? Na, egal. Ich weiß daher immer vorher, wenn etwas passieren wird, glauben Sie mir. Heute Nacht wird alles glattgehen.« Er lehnte sich über den Tisch und goss etwas Whisky in Conroys Tee. »Trinken Sie aus, dann gehen wir zum Flugplatz. Ich habe den Dolpo-Pa bereits vor zwei Stunden mit meinem hiesigen Mechaniker hingeschickt. Die Umladung ist ebenfalls schon über die Bühne gegangen.«
Conroy blickte mit einem leichten Stirnrunzeln in seine Teeschale. Irgendwo tief in ihm meldete sich ein primitiver Instinkt – vielleicht das Erbe aller alten Rassen? – weitergegeben an ihn von seinen Vorfahren, die sich, soweit er wusste, in schwankenden, heute primitiv und lebensgefährlich anmutenden hölzernen Nussschalen auf die Meere gewagt hatten. Dieser Instinkt warnte ihn, sagte ihm, dass Gefahr im Anzug war. Trotz aller Versicherungen Haans – dieses Unternehmen stand unter keinem besonders freundlichen Stern. Nachdem sich der SY.N.D.I.C.-Agent mit dieser Tatsache abgefunden hatte, überkam ihn eine seltsame Ruhe, die ihm Kraft gab. Er hob seine Teeschale, lächelte und prostete Haan zu. Dann trank er das jetzt fürchterlich schmeckende Gebräu in einem Zug aus.
»Von mir aus können wir«, sagte er.
Die Landebahn befand sich einen Kilometer außerhalb Thilens auf einem flachen Uferstreifen. Keine der offiziellen Fluglinien benutzte den Platz, der während der Aufstände als provisorischer Stützpunkt einer Luftlandeeinheit der Chikoms errichtet worden war. Der Hangar war ein alter Bau und aus vorgefertigten Bauteilen errichtet. An seinen Außenflächen trug er noch Spuren der vormals graugrünen Tarnbemalung. In seinem Innern roch es feucht und modrig, als sei er schon seit Jahren nicht mehr benutzt worden.
Als Conroy ihn betrat, stieß er einen überraschten Laut aus.
Die Maschine stand mitten im Hangar. Im Licht der Xenon-Deckenlampen glänzten die schmutzigweißen Wandungen eines Hoverjets in Wintertarnung, einer Vertidyne von Dornier-Mabuchi mit verstärkter Seitenpanzerung gegen Raketenbeschuss und Hubrotoren aus einer 65-Schicht-Composit-Bauweise, die gegen Beschuss kleinerer Kaliber unempfindlich waren. An der Maschine waren die Verkleidungen der Steuerbord- und Backbordaggregate geöffnet. Parimandu, Haans hiesiger Mechaniker, hockte auf dem Pilotensitz und lauschte mit angespannter Miene dem Geräusch der beiden starken Motoren. Neben ihm saß ein hochgewachsener Tibetaner. Als sie Haan erblickten, drosselte der Mechaniker die Maschinen zu einem leisen Flüstern, und beide sprangen auf den mit Öl- und Treibstoffflecken übersäten Betonboden herab.
»Irgendwelche Probleme, Pari?«, wandte sich Haan an den Mechaniker.
»Nichts Besonderes, Sahib, nur eine Feinabstimmung.«
»Und wie klingen sie?«
Parimandu zeigte ein Lächeln und ein zufriedenes Glitzern in den Augen. »Großartig, Sahib.«
»Treibstoff?«
»Aufgetankt bis zu Halskrause.«
Conroy wandte Haan sein Gesicht zu und sagte bewundernd: »Wo haben Sie diese... diese Wahnsinnsmaschine aufgetrieben? Ist Ihnen noch niemand draufgekommen, dass Sie sich in Besitz von Kriegswaffen befinden?«
Haan zuckte die Schultern.
»Krr-ieg sein lang-ge vorbei«, radebrechte er in der schlechten Parodie eines beo-russischen Infanteristen.
»Der Krieg ja«, betonte Conroy und wandte sich an den Dolpo-Pa. »Würden Sie mich bekannt machen, Ray!«, sagte er über die Schulter.
Der Tibetaner trug das traditionelle lange Untergewand mit weiten Ärmeln und darüber eine Schuba aus Schaffell, die seine Brust bis zum Gürtel freiließ. Seine Beine steckten in kniehohen roten Stiefeln aus Rohleder. Sein Haar war zu beiden Seiten des Kopfes zu Zöpfen hochgebunden, darauf thronte eine spitz zulaufende Fellmütze. Der Dolpo-Pa war groß und kräftig. Sein gebräuntes Gesicht hatte keine orientalischen Züge. Zudem verliehen ihm die hohen Backenknochen und die gerade Nase etwas Aristokratisches.
»Tsamcho, das ist Doktor Conroy. Der Ethnologe, der zum Lhakpa-Kloster will«, sagte Ray Haan.
Der Tibetaner streckte die Hand aus und sagte schlicht: »Ich freue mich, Doktor Conroy.«
Morton war beeindruckt. Was nicht nur an dem einwandfreien Englisch lag, das Tsamcho sprach. Er war auch sonst ein Mann, der in jeder Umgebung Eindruck gemacht hätte. Intelligent und hart. Eine Führerpersönlichkeit, trotz seiner Jugend. Männer dieses Schlages, dachte er, gehen keiner Auseinandersetzung aus dem Weg. Sie gingen ein paar Schritte von der Maschine weg und setzten sich auf eine Kiste. Im Hangar war Rauchen verboten, deshalb unterließ es Conroy, Tsamcho eine Zigarette anzubieten, obwohl er an dessen gelblich verfärbten Fingerspitzen sah, dass er ein starker Raucher sein musste.
»Devlin sagte mir», begann er, »dass Sie mich nach Tibet begleiten und mir bei den Mönchen des Kloster Lhakpa weiterhelfen wollen?«
»So ist es.«
»Warum tun Sie das?«
»Ich verspreche mir«, antwortete der Tibetaner einfach und ohne Pathos, »von Ihren Studien ein bestimmtes Echo in der Welt. Außerdem ist meine Anwesenheit im Kloster dringend gefordert.«
»Wie ist denn die Lage im westlichen Tibet?«
»Sie unterscheidet sich vom übrigen Land. Die Chinesen haben ihre Präsenz seit Dekaden immer mehr verstärkt, haben neue Straßen angelegt, Brücken gebaut und versuchen, auch die letzten Bastionen unseres tapferen Volkes zu zerschlagen.«
»Es gibt also noch immer Widerstand?«
Ein leichtes Lächeln huschte über Tsamchos Gesicht.
»Unser Volk ist ein Volk von Hirten, die ständig mit ihren Herden umherziehen. Es sind harte Bergbewohner, die sich nicht so leicht fremder Herrschaft unterwerfen, schon gar nicht der der Chinesen. Was haben Sie eigentlich mit Ihrer Frage bezweckt?«
»Ich war bislang der Meinung, dass das tibetanische Volk mit seinem buddhistischen Glauben jeder Art von Gewalt abgeneigt ist«, bemerkte Conroy in seiner Rolle als Ethnologe.
»So war es einmal«, erwiderte Tsamcho mit harter Stimme. »Doch dann kamen vor vielen Jahrzehnten die Chinesen, töteten unsere Männer, vergriffen sich an unseren Frauen und Töchtern. Vor langer, langer Zeit waren die Tibetaner bereits schon einmal fürchterliche Krieger, bis Buddha uns die Pfade des Friedens lehrte... Die Chinesen haben uns wieder in ein kriegerisches