Der Marshal kommt: Goldene Western Sammelband 12 Romane. Frank Callahan
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Die Frau war im Haus verschwunden und räumte dort herum, während sich Nelson auf der Farm umsah. Ein großer Besitz war das wirklich nicht, darüber hinaus befand er sich in einem schlechten Zustand.
In einem baufälligen Stall fand er sein Pferd zusammen mit einem Pony. Auch sein Sattel war dort abgelegt.
Ich habe wirklich Glück gehabt, an diese Leute geraten zu sein!, überlegte er.
Im Stall fand er einen Holzklotz, der etwas kleiner war als eine Whisky-Flasche. Nelson hob ihn vom Boden auf und nahm ihn mit nach draußen.
Dann entfernte er sich etwas vom Haus und dem Stall und stellte den Klotz hochkant auf die Erde. Sich selbst postierte er etwas mehr als ein Dutzend Schritt weit weg.
Er bewegte die Finger seiner rechten Hand. Er musste trainieren, wollte er tatsächlich jemals in der Lage sein, mit McLeish abzurechnen.
Nelson griff zum Holster an seiner Hüfte und riss den Revolver heraus, den er dann auf den Holzklotz gerichtet hielt.
Aber er drückte nicht ab.
Wenn McLeish mir jetzt gegenübergestanden hätte, wäre ich längst tot!, dachte er. Seine Form war erbärmlich, und er wusste das.
17
Die Tage gingen einer wie der andere dahin. Nelson verbrachte lange Stunden damit, seinen rechten Arm zu trainieren.
Laut donnerten die Revolverschüsse über die Ebene, was der Frau zunächst nicht recht war. Wer konnte schon wissen, ob nicht irgendwelche Herumstreuner von den Schüssen angelockt wurden – wenn es nur aus Neugier war. Ihr erster Gedanke war, Nelson die Ballerei zu verbieten. Aber dann entschied sie sich doch anders. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, einen Mann auf der Farm zu wissen, der mit dem Revolver umzugehen wusste.
So ließ sie ihn also gewähren. Oft stand der Junge fasziniert dabei und schaute zu, bis dann gewöhnlich seine Mutter auftauchte und ihn anwies, seine Arbeiten zu Ende zu bringen.
Zwischendurch beteiligte sich Nelson an den Arbeiten, die auf der Farm anfielen. Mit jedem Tag, den er hier verbrachte, kehrte ein Teil seiner alten Kräfte zurück, und auch sein Arm machte Fortschritte.
Eines Tages beschloss er, den Stall wieder in Ordnung zu bringen, wobei ihm der Junge nach Kräften zur Hand ging.
Die Frau betrachtete Nelsons Genesungsprozess mit gemischten Gefühlen. Einerseits war sie froh, endlich nicht mehr alles allein machen zu müssen, aber auf der anderen Seite bedeutete jede Besserung seines Zustands, dass der Tag näher rückte, an dem er die Farm verlassen würde. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann musste sie feststellen, dass sie sich schon sehr an die Anwesenheit des Fremden gewöhnt hatte. Er erweckte ein Gefühl der Sicherheit in ihr.
Ihre Züge hatten einen Gutteil ihrer Verhärmung verloren, und er bewirkte wohl auch, dass sie mehr Wert auf ihre Körperpflege und ihr Äußeres zu legen begann.
Und doch wusste sie im Inneren ihres Herzens, dass es sinnlos war, ihn halten zu wollen. Es würde der Tag kommen, an dem er aufbrach, um den Mord an seiner Familie zu rächen. Keine zehn Pferde - und auch keine Frau - würden imstande sein, ihn davon abzubringen!
18
Aus den Tagen wurden Wochen. Nelson verlor etwas den Überblick darüber, wie lange er sich bereits auf der Farm von Jody Lawton befand.
Nachts peinigten ihn oft die Erinnerungen an das Grauen, das seiner Familie widerfahren war. Er warf sich dann wild auf seinem Lager hin und her oder schrie im Schlaf.
Einmal rüttelte die Frau ihn wach, und er war ihr dankbar dafür. „Ich werde es einfach nicht los!, sagte er ihr.
„Ich sehe immer wieder dieselben Bilder vor mir …“
„Irgendwann wird es aufhören“, meinte sie zuversichtlich. „Glauben Sie mir!“
„Das würde ich gerne …“
Vielleicht würde es besser werden, wenn er mit McLeish abgerechnet hatte. Vielleicht würde er dann zumindest zum Teil seinen Frieden wiederfinden.
19
In einer anderen Nacht erwachte Nelson vom Schrei eines Coyoten, der keiner war. Die beiden Pferde wieherten und scharrten unruhig. Nachdem er sich aufgesetzt hatte, war Nelsons erste Handbewegung ein schneller Griff zu seinem Revolvergurt, den er sich daraufhin hastig umschnallte.
Er stand auf, ging zum Fenster und blickte hinaus in die Dunkelheit. Es war eine sternklare Nacht, der Mond stand als helle Sichel am Himmel. Ein leichter Wind blies und bog die Sträucher in seine Richtung.
Instinktiv spürte Nelson, dass dort draußen etwas nicht in Ordnung war.
Er trat zur Tür, schob so leise wie möglich den Riegel zur Seite und öffnete sie. Er konnte trotz aller Vorsicht nicht vermeiden, dass sie dabei etwas knarrte. Seine Hand umfasste den Griff des Revolvers und zog ihn lautlos aus dem Holster.
Irgendwo dort in der Dunkelheit schien sich etwas zu bewegen.
Ein Geräusch, ein Schatten.
Nelson kniff die Augen zusammen. Vielleicht täuschte er sich und sah Gespenster.
Es wäre nicht verwunderlich gewesen, hätten ihm seine überreizten Sinne einen Streich gespielt. Doch nun sah Nelson einen Schatten am Stall umherschleichen, der eindeutig einer menschlichen Gestalt gehörte.
Ein Pfeil sirrte fast lautlos an seinem linken Ohr vorbei und bohrte sich in die Holzwand, die sich hinter ihm befand.
Nelson warf sich augenblicklich zu Boden und rollte sich ab. Sekundenbruchteile später kamen zwei weitere Pfeile aus dem Nichts geschossen. Nelson feuerte in die ungefähre Richtung, aus der dieser Angriff erfolgt war, und rollte sich dann erneut herum.
Eine barbarische Gestalt mit langer, schwarzer Mähne und nur mit einem Lendenschurz bekleidet tauchte plötzlich über ihm auf und stieß einen furchtbaren Kriegsruf aus.
Nelson sah, wie sein Gegner mit dem Tomahawk zum Schlag ausholte. Nelson schoss, der Indianer taumelte rückwärts und fiel zu Boden.
Auf einmal war die Nacht voller Leben. An mehreren Stellen zugleich bewegte sich etwas. Nelson sah, wie zwei Indianer versuchten, den Pferdestall zu öffnen. Den ersten traf er am Kopf, der zweite konnte noch einen Schuss mit seinem altertümlichen Vorderlader abgeben, bevor auch er getroffen zu Boden sank.
Nelson warf einen kurzen Blick zur Haustür, an der unterdessen die Frau mit einer Winchester in der Hand Posten bezogen hatte. Die Schießerei musste sie geweckt haben. Sie schaute angestrengt in die Dunkelheit und schoss, wenn sie etwas zu sehen glaubte.
Nelson rannte in gebeugter Haltung zum Stall hinüber, wobei ihn mehrere Gewehrschüsse knapp verfehlten. Worauf konnten es die Indianer schon abgesehen haben – außer auf die Pferde!
Sie waren das Einzige, was hier noch einen gewissen Wert besaß, und zar für weiß und rot gleichermaßen.
Als Nelson den Stall erreichte, warf er sich hinter einem Strauch in Deckung. Von dort konnte er beobachten, wie die Frau einen Indianer erschoss, der sich geschickt angeschlichen und versucht hatte, ins Innere des Hauses zu gelangen.
Wenn es nur eine kleine Bande ist, haben wir eine Chance!, überlegte Nelson.
Ansonsten sind wir geliefert!
Plötzlich spürte er in seinem Rücken das Atmen eines Menschen.
Er wollte sich blitzschnell herumdrehen und den schussbereiten Revolver abfeuern, aber dafür war es bereits zu spät. Ein muskulöser Arm hatte sich um seinen Hals gelegt und zog ihn nach hinten.
Eine fest zupackende Hand krallte sich um den Unterarm seiner Rechten,