Die Blaue Revolution. Peter Staub
Читать онлайн книгу.negativen Folgen des Klimawandels werden vor allem die Schwachen, die Menschen mit niedrigen Einkommen sein – sowohl global gesehen wie auch bei uns.» Darum setzen sich die Gewerkschafter*innen dafür ein, dass die Massnahmen gegen den Klimawandel sozialverträglich sind: «Der Werkplatz und der Arbeitsmarkt Schweiz können nur mit guten Arbeitsbedingungen und einer solidarisch finanzierten Energiewende gesichert werden.» Was für die Schweiz gilt, ist auch global richtig.
Das sieht auch die internationale Klimabewegung so. Stellvertretend dafür steht in der Klimacharta der Jugendlichen, die in der Schweiz die Fridays for Future-Demos organisieren: «Wir fordern Klimagerechtigkeit.» Dabei geht es um Massnahmen, «die materiell und finanziell benachteiligte Menschen nicht zusätzlich belasten.» Das soll durch das Verursacherprinzip sichergestellt werden: Wer Treibhausgasemissionen und die Umweltverschmutzung verursacht und davon profitiert, wird zur Verantwortung gezogen. «Sie müssen Schäden vorbeugen, beziehungsweise bereits entstandene Schäden beheben.» Dieses Prinzip soll nicht nur generationenübergreifend, sondern auch global gelten.[46]
Der Berner Geografie-Professor Peter Messerli hat zusammen mit 15 Kolleg*innen im Auftrag der UNO den ersten unabhängigen Weltnachhaltigkeitsbericht verfasst. In einem Interview sagte er bereits ein halbes Jahr bevor Greta Thunberg ihren Schulstreik fürs Klima begann, dass wir alle zehn Jahre den weltweiten C02-Ausstoss halbieren müssten, um den Klimawandel zu stoppen. Einer nachhaltigen Entwicklung stehe aber noch ein zweites, riesiges Problem im Weg, die Ungleichheit in der Welt. «Sie hat vor allem innerhalb der Länder extrem zugenommen, und wir haben keine Rezepte dagegen.» Für die Entwicklung der Menschheit seien die nächsten zehn Jahre «absolut entscheidend», sagt Messerli. Da die Vernetzung und die Verbindung der Welt in den letzten Jahren exponentiell zugenommen hat, muss man die Spielregeln anpassen, weil die Menschen «nicht nur einen sicheren, sondern auch einen gerechten Platz auf der Welt» brauchen. Und dafür trägt auch die kleine Schweiz eine grosse Verantwortung: «Wer, wenn nicht die Schweiz, kann es sich leisten, den Mut zu haben und die Innovation zu entwickeln, um die Welt neu zu entwerfen?», fragt der Professor für Nachhaltige Entwicklung. Und er erinnert daran, dass fast 90 Prozent der Konsumgüter, welche die Einwohner*innen der Schweiz verbrauchen, ganz oder teilweise im Ausland produziert werden. Darin zeigt sich nicht nur die Abhängigkeit der Schweiz, sondern auch ihre internationale Verantwortung.[47] In anderen reichen Staaten des globalen Nordens sind die entsprechenden Zahlen vielleicht nicht ganz so extrem. Hoch sind sie allemal.
Doch die Schweiz trägt nicht nur politische und gesellschaftliche Mitverantwortung für die Verhältnisse in der Welt. Wie sieht es mit ihrer ökologischen Verantwortung aus? Der Klima-Fussabdruck der Schweiz ist «eigentlich doppelt so gross ist, wie der Inlandwert glauben lässt», sagt Reto Knutti, der führende Klimawissenschafter der Schweiz. Die Schweiz will zwar offiziell bis in 30 Jahren klimaneutral sein und unter dem Strich keine Treibhausgas-Emissionen mehr ausstossen und so mithelfen, die globale Klimaerwärmung auf maximal 1.5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen.[48] Dennoch ist die Schweiz noch lange nicht auf Kurs, wie ETH-Professor Knutti ausführt. Denn während die Schweiz im Gebäudesektor Fortschritte erzielt hat, gingen die Verkehrsemissionen nicht zurück. «Deutlich zugenommen haben die ‹grauen› Emissionen, also Emissionen, die durch Güter und Dienstleistungen, die im Ausland für uns produziert und in der Schweiz konsumiert werden.» Die Schweiz verlagert einfach einen grossen Teil der eigenen Emissionen ins Ausland. Auch bei den in der Schweiz konsumierten Nahrungsmitteln ist «über die Hälfte des Treibhausgasausstosses auf importierte Produkte zurückzuführen». Für eine nachhaltige Klimapolitik ist die Schweiz also gewiss kein Musterland. Dafür bräuchte es klare Rahmenbedingungen sowie einen klaren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Gestaltungswillen.[49]
Wenn also im Folgenden aufgezeigt wird, welche Vorteile das politische System der Schweiz für eine globalen Demokratie bietet, geht es nicht darum, die herrschende Politik der Schweiz als Vorbild oder Massstab für künftiges Handeln zu propagieren.
Zusammengefasst:
Die ökologischen und sozialen Probleme hängen eng zusammen.
Die existentiellen globalen Probleme können nur global gelöst werden.
Die nationalen Regierungen und internationalen Organisationen sind unfähig, die Probleme zu lösen.
Das herrschende Wirtschaftssystem muss radikal umgebaut werden, wenn der Klimawandel begrenzt werden soll.
Dass ein neues System demokratisch und nachhaltig ökologisch sein muss, liegt auf der Hand. Wobei die grösste Schwierigkeit nicht darin besteht, eine globale Demokratie zu skizzieren. Die schwierigste Aufgabe wird es sein, den politischen und wirtschaftlichen Umbau so zu gestalten, dass das herrschende System nicht unkontrolliert zusammenbricht und die Welt in Schutt und Asche zerfällt. Denn die ersten Opfer eines solchen Crashs würden jene sein, deren Leben bereits heute vor allem aus Entbehrungen besteht.
Deshalb braucht es für den politischen Umbau nicht nur eine breite Basisbewegung, welche die nötigen Mehrheiten beschafft, um die politischen Umwälzungen weltweit zu erzwingen. Wir brauchen auf der anderen Seite auch hellwache und demokratisch gesinnte Persönlichkeiten, die dafür sorgen, dass der Übergang geordnet und ohne fundamentale Wirtschaftskrise oder Kriegswirren vonstattengeht. Angesichts der Figuren, die im Jahr 2020 in den USA, in Russland, Brasilien oder Australien an der Macht sind, könnte man das als unmöglich bezeichnen.
Dass aber auch scheinbar unbewegliche Machthaber grundsätzlich zu neuen Einsichten fähig sind, hat das Beispiel von Glasnost und Perestrojka in der damaligen Sowjetunion gezeigt. Als Mitte der 1980er-Jahre der neue Generalsekretär der allmächtigen Kommunistischen Partei der Sowjetunion den Umbau des überholten Sowjetsystems ankündigte, konnte sich niemand vorstellen, dass diese Atommacht nach fast 50 Jahren Kaltem Krieg in wenigen Jahren praktisch ohne Blutvergiessen einem neuen System Platz machen würde. Es geht hier nicht darum, zu werten, was das neue System den Russ*innen und ihren damaligen Verbündeten unter dem Strich gebracht hat. Wichtig ist die Erkenntnis, dass es möglich ist, auch innerhalb von wenigen Jahren ein veraltetes System umzubauen, wenn der Wille dafür vorhanden ist.
Und im Gegensatz zur Sowjetunion haben die Gesellschaften in den erwähnten demokratisch verfassten Ländern die Möglichkeit, ihren Politiker*innen Beine zu machen oder sie abzuwählen.
Dass die Klimaerwärmung helfen kann, den nächsten Schritt in der Evolution der Menschheit zu machen, hat der deutsche Historiker Philipp Blom aufgezeigt. In seiner «Geschichte der Kleinen Eiszeit» weist er nach, wie die letzte grosse Klimaveränderung im 16. Jahrhundert den Boden für die Aufklärung bereitete, ohne die wir nicht über Menschenrechte oder Demokratie sprechen würden. Im 17. Jahrhundert waren Menschenrechte noch äusserst «gefährliche und moralisch skandalöse Ideen». Dass ein Mann besser war als eine Frau oder ein Christ besser als ein Heide, wurde nicht hinterfragt. «Die Idee von der Gleichheit der Menschen hat an den moralischen Grundfesten der Gesellschaft gerüttelt», sagt Blom.
Nutzen wir also die neue Klimaerwärmung, um die heute überholten Grundsätze der Gesellschaft positiv zu verändern. Dass die Gedanken dazu als «gefährlich und moralisch skandalös» eingestuft werden können, nehmen wir gerne in Kauf.
Jean Paul «Bluey» Maunick ist Profimusiker und kein Politiker. Deshalb hat er sich nicht gefragt, ob sein Statement politisch korrekt oder gar gefährlich war. «Bluey» hat einfach gesagt, was er denkt und was er an den unzähligen Konzerten von Incognito rund um den Globus erlebt hat: «We are one nation – we are one family.»
Es ist Zeit, diese Erkenntnis politisch umzusetzen. Zeit, die Welt so zu organisieren, dass wir als Menschheit anständig zusammenleben können. Zeit, eine globale Demokratie aufzubauen. Nutzen wir die Klimakrise als Chance. Sorgen wir dafür, dass die Menschen die Angst überwinden.
Wenn es uns gelingt, die Menschen wieder zum Träumen zu bringen, schaffen wir es, eine Welt aufzubauen, in der die ganze Menschheit in Freiheit, Gleichheit und Solidarität leben kann.
Bevor solche Träume in die Tat umgesetzt werden können, gilt es, der Realität ins Auge zu blicken. Dazu dient das nächste Kapitel.