Die Blaue Revolution. Peter Staub
Читать онлайн книгу.an der Russischen Revolution. Die Lektüre des bewegten Lebens Grimms politisierte mich. Ich lernte, dass die Welt nicht nur ungerecht war, sondern sich auch verändern liess. Wenn man sich organisierte, ein gemeinsames Ziel und einen Plan hatte.
Mein antiautoritärer Charakter machte mich immun gegen die Ableger neolinker Politsekten, die damals an der Kantonsschule Olten den Ton angaben. Mit den Marxisten-Leninist*innen oder Trotzkist*innen lag ich aber nicht nur wegen ihres Personenkults in den Haaren, sondern auch, weil sie oft zu einfache Antworten auf die komplizierten Fragen der Zeit hatten.
Das hinderte mich jedoch nicht, leidenschaftlich mit ihnen über Politik im Allgemeinen oder über spezielle Aspekte der Russischen Revolution zu diskutieren. Aufgrund meiner Lektüre betrachtete ich die Oktoberrevolution aus der Perspektive der russischen Anarchist*innen, die bereits kurz nach der Oktoberrevolution von Lenin und seinen Bolschewiki bekämpft worden waren. Mit einer gleichaltrigen Gymnasiastin, die aus einer gutbürgerlichen Familie stammte und mit ihren rund 19 Jahren eine glühende Verehrerin Leo Trotzkis war, stritt ich mich besonders gern.
Mein Lieblingsthema war die Niederschlagung des Aufstands der Matrosen von Kronstadt. Damals war Trotzki noch eine der wichtigsten Figuren der Russischen Revolution. Es war im Jahre 1921, als die Matrosen von Kronstadt, die in der Oktoberrevolution vier Jahre zuvor eine zentrale Rolle gespielt hatten, sich dagegen wehrten, dass die Bolschewiki ohne Rücksicht auf Verluste ihre Macht durchsetzten. Der Aufstand von Kronstadt war mit Forderungen unterlegt, die sich an den Zielen der Russischen Revolution orientierten. Der russische Anarchist Volin[4] bezeichnete den Aufstand später als den Versuch, in Russland nach 1905 und 1917 eine dritte Revolution durchzuführen. Die brutale Niederschlagung des Aufstandes durch die Rote Armee, angeführt von deren Oberbefehlshaber Leo Trotzki, war für die russischen Anarchisten das endgültige Zeichen, dass die Sowjetkommunisten gnadenlos ihre eigene Diktatur durchzusetzen.
Der Kommunist Victor Serge[5], der später von Stalin aus der Partei ausgeschlossen wurde und nach Frankreich flüchten konnte, erinnerte sich so an den Aufstand von Kronstadt: «Flugschriften, die in den Vorstädten verteilt wurden, gaben die Forderungen des Kronstädter Sowjets bekannt. Es war das Programm einer Erneuerung der Revolution.» Dazu gehörten die Forderung nach der Neuwahl der Sowjets in geheimer Abstimmung, Rede- und Pressefreiheit für alle revolutionären Parteien und Gruppen, Gewerkschaftsfreiheit, Freilassung der revolutionären politischen Gefangenen und die Abschaffung der offiziellen Propaganda. Und, was für traditionelle Stalinist*innen auch Jahre später noch der grösste Stein des Anstosses war, die «Freiheit des Handwerks» und der Rückzug «der Sperrkommandos», welche die Bevölkerung daran hinderten, sich selbst zu versorgen. «Der Sowjet, die Garnison Kronstadt und die Schiffsbesatzungen des ersten und zweiten Geschwaders erhoben sich, um dieses Programm zum Sieg zu führen.»[6]
Die uniformierten Sowjetkommunisten schlugen den Aufstand blutig nieder. Am 7. März 1921 befahl Leo Trotzki seiner Armee den Angriff auf die Festung von Kronstadt. Die rund 10 000 Matrosen wehrten sich zuerst erfolgreich. Doch die Bolschewiki gaben nicht auf. Während die Kronstädter Matrosen bereits die Wahlen für die neuen Sowjets, die «Arbeiter- und Soldaten-Räte», vorbereiteten, begann die Rote Armee erneut, die Festung mit Artilleriefeuer anzugreifen. Mitte März stürmten rund 50 000 Soldaten die Festung. Während etwa 8 000 Matrosen übers Eis nach Finnland flüchten konnten, wurden rund 2 500 Matrosen standrechtlich erschossen. Damit war der anarchistische Traum von einer dritten Revolution definitiv vorbei.[7]
Der Aufstand der Kronstädter Matrosen erhält hier so viel Platz, weil die Russischen Revolution für die Geschichte der Menschheit wichtig war, indem sie zeigte, dass eine sozialistische Revolution möglich war und den Weg für zahlreiche Befreiungsbewegungen in der sogenannt Dritten Welt bereitete. Aber die Pervertierung der Russischen Revolution, die nicht erst mit Stalins Aufstieg zum Diktator, sondern viel früher begann, zeigte auch, dass nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg dahin so wichtig ist, dass er gut geprüft werden muss.
In meinen jugendlichen Disputen über den Aufstand von Kronstadt schälten sich auch ein paar Erkenntnisse meiner frühen politischen Bildung heraus, die für mich noch heute gelten:
1 Geschichte ist machbar.
2 Um die Welt zu verändern, braucht es ein Ziel und einen Plan.
3 Der Zweck heiligt nicht die Mittel.
4 Das Menschenrecht geht vor. Immer.
5 Eine künftige, emanzipatorische Revolution muss eine weltweite sein.
Während ich die Zeche für meine politische Einstellung und mein politisches Engagement später durch ein faktisches Berufsverbot bezahlte – dazu komme ich noch – machte meine damalige trotzkistische Diskussionspartnerin nach dem Gymnasium eine solide bürgerliche Karriere.
Ich war also nie Kommunist, schon gar kein Parteikommunist. Ich war aber auch nie ein Antikommunist. Im Gegenteil: Den Antikommunismus betrachte ich als bürgerliches Spiegelbild des Stalinismus. Meine basisdemokratische Grundhaltung hat mich davon abgehalten, auf autoritäre Konzepte zu setzen oder einem Leader hinterherzuhecheln.
Während ich in politischen Diskussionen auflebte, langweilte ich mich in den Klassenräumen des Gymnasiums. Ausser in den Fächern Deutsch, Geschichte und Englisch mochte mich der Schulstoff selten zu begeistern. Viel lieber steckte ich meine Energie in eine Schüler*innenzeitung, die ich mitbegründete. Im «Kaktus» schrieb ich erstmals einen politischen Kommentar. Mithilfe einer Broschüre der Demokratischen Juristen argumentierte ich gegen die Verschärfung der Strafgesetzordnung, in der öffentliche Aufforderungen zu Gewalt strafbar gemacht werden sollte. Die Vorlage wurde im Juni 1982 schliesslich deutlich angenommen. Später wurde ich persönlich mit dem neuen Gesetz konfrontiert. Und zwar genau in dem Bereich, in dem ich es kritisiert hatte. Es wurde verwendet, um unliebsame Stimmen zu verstummen zu bringen.
Als in Zürich 1980 die Jugendunruhen ausbrachen, war ich als 18-Jähriger viel mehr an meinen politischen Büchern interessiert, als daran, auf die Strasse zu gehen. Zürich war für mich auch weit entfernt. Es dauerte jedoch nicht mehr lange, bis ich politisch aktiv wurde. Gegen Ende der Schulzeit, die ich Herbst 1982 mit der Matura abschloss, nahm ich erstmals an politischen Sitzungen und Kundgebungen teil.
Die atomare Aufrüstung verhalf der Friedensbewegung in der Schweiz zu neuem Schwung. Ich begann, mich im Oltner Friedenskomitee zu engagieren. Este Demonstrationserfahrungen brachte ich mit, wuchs ich doch in einer Gegend auf, in der ein Atomkraftwerk geplant war. Anfang der 1970er-Jahre nahm ich als etwa 12-Jähriger erstmals an einer Anti-AKW-Demonstration in Olten teil. Daraus resultierte mein erster Akt des «Widerstands». Ich brachte einen Aufkleber mit dem Spruch «Nein zum AKW Gösgen – das Niederamt will leben» im Liftschacht des Wohnblocks an, in dem wir nun wohnten. Der Kleber war jahrelang sichtbar. Das AKW Gösgen wurde 1981 eingeweiht. Auch das sollte mich später noch beschäftigen.
Doch zurück zum Friedenskomitee. Als Gruppe von Schüler*innen brachten wir etwas frischen Wind in den trägen Verein. Wir schritten zur Tat und organisierten in einem Vorort Oltens eine Platzkundgebung, mit der wir uns mit den Rothenthumer Landwirten solidarisierten, die verhindern wollten, dass die Armee in ihrer Moorlandschaft einen Waffenplatz mit Panzerpisten baute. Der Widerstand der Innerschweizer Bauern verknüpfte zwei Themen, die uns damals beschäftigten: die Armee und die Umwelt.
Weil es zu dieser Zeit in der Schweiz noch keinen Zivildienst gab, drohte auch mir die obligatorische Rekrutenschule. Diese kam mir als antiautoritärer Charakter mehr als nur ungelegen. Und der Umweltschutz war mir nicht nur wegen des Engagements gegen das AKW wichtig. Ich kannte den Bericht des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums, der bereits 1972 veröffentlicht wurde.
1982 eskalierte der Streit in Rothenthurm. Die Bauern zündeten nicht nur Warnfeuer an, auch Baracken der Armee gingen in Flammen auf. Der geplante Waffenplatz war zu einem nationalen Thema geworden. Also organisierten wir auf dem Feld eines fortschrittlichen Bauern in Winznau eine Kundgebung mit einem Warnfeuer, das ein paar Hundert Sympathisant*innen anzog. Obwohl ich einer der federführenden Organisatoren der Demonstration war, tauchte mein erstes aktives politisches Engagement später nicht in meiner Staatsschutz-Akte auf.
Natürlich