Der dicke Mann. Wolfgang Armin Strauch

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Der dicke Mann - Wolfgang Armin Strauch


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noch als Position auf seinen Kontoauszügen.

      Jadwiga hingegen war für mich so etwas wie eine Ersatzmutter. Als ich einmal zu ihr ‚Mama‘ sagte, verbesserte sie mich aber sofort.

      „Es gibt nur eine Mutter. Das darfst du nie vergessen.“

      Trotzdem war sie der Anker in meinem Leben. Sie verkörperte alles, was ich mir unter einer Mutter vorstellte. Ich wollte so sein wie sie. Manchmal erzählte sie von ihr. Es waren sehr schöne Geschichten. Gelegentlich sah ich, dass sie danach weinte. Ich wusste nicht, warum, aber mir kamen dann auch die Tränen.

      Mein Großvater hat kaum von ihr erzählt. Nicht einmal ein Bild zierte seinen Schreibtisch. Stattdessen prangte dort eine Büste von Stalin. Ich verstand das nicht. Ich fragte Jadwiga als Kind, ob meine Mutter hässlich war, weil wir kein Bild von ihr hatten. Sie versicherte mir, dass sie eine schöne Frau war, die es weit gebracht hätte, wenn sie nicht gestorben wäre. Dann meinte sie, dass ich kein Bild brauche. Es würde reichen, dass ich in den Spiegel schaue. Ich sei ihr genaues Abbild.

      Aber jeder braucht eine Mutter, an die man sich anlehnen kann, wenn man krank ist oder einfach nur Sorgen hat. So malte ich mir ein Bild von ihr, das den Prinzessinnen in den Märchenbüchern sehr ähnlich war. Je älter ich wurde, desto öfter fragte ich Großvater nach meiner Mutter. Er wurde dann stets mürrisch und schüttete noch mehr Schnaps in sich herein. Antworten bekam ich nie. Schließlich hatte ich mich damit abgefunden.

      Aber wenn er unterwegs war, suchte ich in allen Schränken und seinem Schreibtisch nach Hinweisen zu ihr. Ich fand aber nur Dokumente des Jugendamtes, die Großvater zum Erziehungsberechtigten erklärten – so wie man einen Gegenstand kauft und dafür eine Besitzurkunde erhält. Zu meiner Mutter waren nur der Name und das Geburtsdatum aufgeführt: Eva Klimek, geboren am 20.07.1923 in Owczarki. In der Zeile für den Namen des Vaters stand „unbekannt“. Es gab allerdings einen Panzerschrank, zu dem nur mein Großvater einen Schlüssel hatte. In den Träumen malte ich mir aus, dass ich ihn irgendwann öffne und darin viele Briefe und Fotos meiner Mutter finde. Sie würde aussehen wie die Filmstars aus Hollywood und an ihrer Seite hätte sie einen indischen Prinzen oder so etwas.

      Seit mir Adam Krawczyk den Schlüssel für den Panzerschrank gegeben hatte, trug ich ihn bei mir. Die Angst hielt mich aber zurück, die Wohnung zu betreten und das Ungetüm zu öffnen. Zerplatzten jetzt meine Träume? Wahrheit kann auch wehtun.

      Der Schüssel gleitet ins Schloss. Seine Drehung löst einen Mechanismus aus. Ich ziehe am Griff und höre, wie Luft in den Innenraum strömt.

      Im oberen Fach liegt ein Brief eines Rechtsanwaltes aus Krakau. Er ist an mich adressiert und ungefähr ein halbes Jahr alt. In dem Schreiben wird um eine dringende Kontaktaufnahme gebeten. Ein Dr. Nikolai Watzlav erinnert an Besuche und bedauerte, mich nicht angetroffen zu haben. Das war bestimmt der Brief, von dem Jadwiga gesprochen hatte. Der Anwalt verweist darauf, dass er wegen der Schweigepflicht nur mit der Adressatin reden darf. Ich lege ihn beiseite.

      Das mittlere Fach füllen Weltkriegsorden, Ehrenurkunden und irgendwelche Dokumente, wann und wo er gekämpft hatte, aus.

      Auf einem Bilderalbum seiner Zeit als Offizier prangte der polnische Adler. Dann folgten Kaufbelege sowie Garantiescheine für Sachen, die schon längst ihren Geist aufgegeben hatten. Und endlich Bilder.

      Nur mit Mühe erkenne ich Jadwiga, Großvater und eine Frau, von der ich annehme, dass es meine Großmutter ist. Andere Fotos zeigen unbekannte Menschen. Die Namen auf der Rückseite sagen mir nichts. Im letzten Fach liegt ein Karton mit der Aufschrift „Sonstiges“, der mich auch befürchten lässt, enttäuscht zu werden. Doch er verdeckt ein großes graues Kuvert.

      Meine Hände zittern vor Aufregung, denn auf der Vorderseite steht: „Durch Alina Klimek an ihrem 16. Geburtstag zu öffnen.“

      Ein Stempel verweist darauf, dass der Brief im Krankenhaus der Stadt Krakau am 18. August 1948 notariell versiegelt wurde. Der polnische Adler auf dem Wappen wirkt auf mich so, als hätte er die ganze Zeit den Umschlag bewacht.

      Behutsam öffne ich den Brief. Einen Augenblick halte ich inne.

      Ein amtliches Schreiben verweist darauf, dass die Gegenstände und Dokumente der verstorbenen Eva Klimek gehörten. Auf ihrem ausdrücklichen Wunsch wurden sie getrennt vom restlichen Nachlass in einem versiegelten Umschlag für ihre Tochter deponiert. Eine Kopie der Inventarliste wurde bei einem Notar hinterlegt.

      Ich finde einen Stapel Ansichtskarten aus Deutschland, Norwegen, Frankreich, den USA und England. Die Texte sind in polnischer Sprache gehalten und an sich belanglos. Als Absender steht immer „Dein Liebster“. Meine Mutter wird mit „Liebste Eva“ angeredet. Die Empfängeradressen sind in Graudenz, Grudziądz oder Krakow. In einem schwarzen Samtbeutel finde ich eine silberne Kette mit einem roten Stein. Mein Herz schlägt bis zum Hals.

      Ich öffne einen Briefumschlag, der an mich adressiert ist.

      „Liebe Alina,

       heute ist Dein 16. Geburtstag. Ich hoffe, dass es Dir gut geht und Du dabei bist, Dir Deine Träume zu erfüllen. Vielleicht hast Du auch schon einen Freund, dann wünsch ich Dir, dass er immer lieb zu Dir ist. Leider ist es mir nicht vergönnt, Dich aufwachsen zu sehen. Vermutlich hast Du auch keine Erinnerung an mich, denn Du warst erst drei Jahre alt, als ich in die Klinik musste. Weil meine Krankheit zu ansteckend ist, durfte ich Dich nicht einmal zum Abschied in den Arm nehmen. Nur ein Blick durch eine Glasscheibe auf mein süßes Baby war mir vergönnt.

       Ich hoffe, dass Dich Dein Großvater gut behandelt. Schließlich bist Du seine Enkelin. Du kannst Dir aber gewiss sein, dass ich immer bei Dir bin, egal wo ich nach meinem Tod auch sein werde. Ich bin mir heute nicht mehr sicher, ob es einen Gott gibt, denn zu viel ist passiert. Doch sollte es doch einen geben, wünschte ich mir, dass er Dich vor allem Unglück beschützt und Du Dein Glück findest.

       Wenn Dein Großvater schlimme Sachen über mich erzählt, vergiss sie einfach! Leider kann ich Dir nicht selbst erklären, wie es damals war. Als ich in Deinem Alter war, hatte ich die schönste Zeit meines Lebens. Das wird Dir sicher seltsam vorkommen. Schließlich hatte Deutschland Polen überfallen und es gab Leid und Elend. Aber ich durfte eine große Liebe erleben. Und ich hatte Freunde, auf die man sich verlassen konnte. Wenn Du möchtest, kannst Du Dir die Geschichte erzählen lassen. Ich werde es nicht schaffen, sie aufzuschreiben.

       Deshalb habe ich zwei Adressen beigelegt. Hoffentlich leben die Menschen noch, wenn Du dies liest. Martin Bauer war meine große Liebe. Du wirst vielleicht erschrecken, weil er ein Deutscher ist. Du kannst ihm aber vertrauen.

       Mein Großvater hat immer gesagt, die Welt ist nicht schwarzweiß, sondern bunt. Wenn er zwischen seinen alten Büchern saß, setzte er mich gern auf den Schoß und zeigte mir Bilder aus fremden Ländern. Ich hatte immer Fernweh. Mit Martin wollte ich die Welt bereisen.

       Die Kette und die Ansichtskarten gehören zu den wenigen Erinnerungsstücken, die ich von ihm habe. Ich habe Dir Fotos beigelegt, die den Krieg überlebt haben. Außerdem findest Du in dem gelben Umschlag einen Brief für ihn.

       Bitte übergib ihn persönlich. Er soll Dir unsere Geschichte erzählen, weil ich es nicht mehr kann. Es bleibt Dir überlassen, über mich zu richten. Ich bin mir aber sicher, dass Du mich verstehen wirst. Ohne Gedanken an ihn hätte ich die schwere Zeit nicht überstanden. Er ist leider nicht Dein Vater.

       Du bist das Ergebnis einer Vergewaltigung. Gleich nach dem Krieg soll der Mann von den heranrückenden Truppen der Roten Armee erschossen worden sein. Daher belaste ich Dich auch nicht mit seinem Namen.

      Dein Großvater hatte mich bedrängt, Dich in ein Heim zu geben. Aber wie hätte ich Dich weggeben können? Du bist doch mein Fleisch und Blut. Jadwiga hat ihn irgendwie überzeugt, dass er die Erziehungsberechtigung unterschreibt. Sie hat mir versprochen, dass sie immer für Dich sorgen wird. Das macht es mir etwas leichter, aus dem Leben zu scheiden. Grüße sie von mir. Ich bin ihr sehr dankbar.

       Ein Gruß soll auch Deinem Großvater gelten. Sage


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