Der dicke Mann. Wolfgang Armin Strauch

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Der dicke Mann - Wolfgang Armin Strauch


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Sie war mein Mutterersatz, meine Mama. Sie ging mit mir in den Park und las abends Märchen vor. Wenn ich sie auf der Arbeit besuchte, zeigte sie mir die alten Bücher. Sie meinte immer, dass es die Vermächtnisse der Vergangenheit sind. Deswegen habe ich mein Geschichtsstudium aufgenommen. Jetzt merke ich erst, wie wenig ich eigentlich von ihr weiß. Vom Krieg und von Auschwitz hat sie kaum erzählt, weil sie dann immer gleich anfing zu weinen.

      Großvater zeigte wenig Mitgefühl. ‚Heulst du wieder wegen des Juden?‘, war eine Bemerkung, die sie tief verletzte. Ich habe das nie begriffen. Auch nicht, warum beide nicht über meine Mutter redeten.“

      Alina wischte sich die Tränen aus den Augen.

      „Und jetzt bin ich allein.“

      Sie lehnte sich an Mazur. Er schluckte. Doch er riss sich zusammen.

      Das Chaos im Zimmer von Tadeusz Klimek hatte er gesehen. Alina blickte betroffen auf den Berg leerer Schnapsflaschen. Es stank nach Erbrochenem und Urin. Sie öffnete das Fenster.

      „Es ist mir peinlich, dass mein Großvater eine solche Unordnung hinterlassen hat. Ich bin ewig nicht mehr hier gewesen.“

      Sie wandte sich ab, als ob es ihre Schuld wäre.

      „Er wollte keine Hilfe annehmen. Sein Arzt hatte vorgeschlagen, ihn in eine Klinik einzuweisen, doch er lehnte das ab. Er unterstellte Jadwiga, dass sie ihn abschieben wolle.“

      Die Durchsuchung der Wohnung blieb ohne Ergebnis. Lediglich ein kleiner Panzerschrank konnte nicht durchsucht werden, da der Schlüssel unauffindbar war. Alina wusste nichts über den Inhalt. Sie vermutete aber, dass er persönliche Unterlagen darin aufbewahrt hatte, da sich in der ganzen Wohnung keine Papiere über die Familie fanden. Mazur versprach, einen Fachmann zu beschaffen, um an den Inhalt zu gelangen.

      Er verschloss die Wohnung und versiegelte die Tür. Dann brachte er Alina ins Wohnheim. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag um 13: 00 Uhr. Bis dahin hoffte er, einen Spezialisten für den Panzerschrank zu finden. Als er Alina verließ, hatte er noch immer den Duft ihrer Haare in seiner Nase.

      Auf der Dienststelle empfing ihn sein Chef übellaunig. Das Innenministerium hatte einen ausführlichen Bericht angefordert. Mazur versprach, das Schreiben sofort fertigzustellen. Zuvor rief er aber Mikulski an, der sich mit Schlössern auskannte. Im Haus behauptete man im Spaß, dass er am legendären Postraub in England beteiligt gewesen wäre und in Polen inkognito lebe. Jedenfalls kannte er sich mit allen gängigen Fabrikaten von Panzerschränken aus.

      Den Bericht für Warschau legte er dem Chef auf den Schreibtisch, da dieser schon längst nach Hause gegangen war. Auf seinem eigenen Tisch stapelten sich die Protokolle von Befragungen der Anwohner und Arbeitskollegen von Jadwiga. Das einzig Nennenswerte war der Hinweis, dass sie sehr eng mit einer ehemaligen Kollegin befreundet war, die sie schon aus Vorkriegszeiten kannte und jetzt in Zakopane lebte. Für die Ermittlungen schien es ihm zwar unwichtig, doch hoffte er, dass sich Alina darüber freuen würde.

      Ein Dossier über Tadeusz Klimek war aufgetaucht, das anlässlich einer Ordensverleihung gefertigt wurde. Es entpuppte sich allerdings als völlig wertlos, da es außer Plattitüden und Lobhudelei keine objektiven Informationen enthielt.

      Es war schon 23: 00 Uhr. Er stieg auf seine Jawa und fuhr nach Hause. Wie immer hatte seine Mutter auf ihn gewartet. Sie liebte es, ihm beim Essen zuzusehen. Es gab Schweinebraten. Auch wenn sich Mazur über den Aufwand ärgerte, vermied er, irgendetwas zu sagen, denn sie hatte ja nur noch ihn. Er schlief wie ein Stein.

      Es fiel seiner Mutter auf, dass er am Morgen etwas länger im Bad brauchte. „Willst du mir was erzählen?“

      „Nein, nein. Es gibt nichts Neues.“

      Bei sich dachte er daran, dass er heute wieder Alina treffen würde.

      Andrzej Mazur konnte sich kaum konzentrieren. Mühselig kämpfte er sich durch den Stapel Papier. Die Befragungen lasen sich wie ständige Wiederholungen.

      „Zu viele Leute waren unterwegs. Sie hatten nichts gesehen.“

      Leberzirrhose war die Todesursache von Tadeusz Klimek schrieb der Gerichtsmediziner. Das waren alles viele Worte, aber kein Hinweis zur Tat, dem Täter oder möglichen Motiven.

      Er hatte bereits seine Jacke angezogen, als das Telefon klingelte. Sein Chef wollte ihn sprechen. Mazur ärgerte sich. Alina würde warten und dem Schlosser hatte er versprochen, ihn zur Wohnung mitzunehmen. Glücklicherweise war sein Kollege Krawczyk da. Kurz erzählte er ihm, was zu tun war. Nach dem Gespräch würde er nachkommen.

      Der Chef hatte Besuch aus Warschau. Obwohl er schon seinen Rapport hatte, musste er dem Offizier vom Innenministerium über den Stand der Ermittlungen berichten. Dann fiel dem Chef ein, dass es Mittag war. Er lud seinen Gast ein.

      Seine Jawa brachte ihn zur Wohnung der Klimeks. Er sprang die Stufen zum Eingang hinauf. Im Hausflur sah er, dass das Siegel an der Wohnungstür gebrochen war. Warum hatte Krawczyk nicht gewartet? Die Tür war nur angelehnt.

      Ärgerlich rief er: „Adam, warum hast du nicht …“

      Er hatte keine Chance. Der Schlag traf ihn zu schwer.

      Der Arzt hatte ein besorgtes Gesicht.

      „Er ist noch nicht bei Bewusstsein. Ihr Mann hatte großes Glück.“

      Alina berichtigte seine Annahme nicht. Adam Krawczyk stand dabei und sah zum Boden. Hätte er nicht zu lange beim Schlosser gebummelt, wären sie rechtzeitig angekommen und Andrzej würde nun nicht hier liegen. Als er die offene Tür sah, war ihm sofort klar, dass etwas passiert war. Er stürzte hinein und entdeckte ihn auf dem Fußboden liegend.

      Alina, die hinter ihm hereingekommen war, schrie. Sie beugte sich zu Mazur herunter, strich ihm über das Gesicht. Als sie seinen Puls fühlte und merkte, dass er am Leben war, küsste sie ihn auf die Stirn. Krawczyk stand da, wie angenagelt, bis sie ihn anschrie: „Worauf wartest du? Ruf den Notarzt!“

      Doch der Schlosser hatte schon Hilfe angefordert.

      Alina Klimek stieg zu ihm in den Krankenwagen. Die beiden Männer blieben zurück und warteten auf die Kriminaltechnik.

      Andrzej Mazur wachte erst nach Stunden auf. Er wusste nicht, wo er war. Im Halbdunkel erkannte er Alina, die seine Hand hielt. Neben ihr saß seine Mutter. Sie war eingeschlafen und lehnte sich an Alina. Was war geschehen? Er wollte etwas sagen, doch reichte seine Kraft nicht aus.

      „Ruhe dich aus! Es wird alles gut.“

      Er blickte Alina an und dachte: ‚Wie schön sie ist.‘

      Dann schloss er die Augen und bemerkte es nicht mehr, als seine Mutter wach wurde.

      Alina hatte dafür gesorgt, dass sie informiert wurde. In der Eile hatte keiner daran gedacht, sie aufzusuchen und von dem Unglück zu erzählen. Sofia Mazur begriff sofort, dass da etwas zwischen ihrem Sohn und Alina war. Die Art und Weise, wie sie im Krankenzimmer die Hand ihres Sohnes hielt, verriet alles. Es wärmte ihr Herz, trotz der großen Sorge um Andrzej.

      Sie wechselten sich an den folgenden Tagen ab. Wenn sie sich trafen, erzählte Frau Mazur davon, wie ihr Sohn als Kind war und Alina hörte zu. Erst nach einiger Zeit berichtete sie über ihre Kindheit. Vor allem, wie ihr die Mutter fehlte und wie Jadwiga versucht hatte, ihr ein Zuhause zu geben. Sofia spürte ihre Hilflosigkeit.

      „Nach dem Tod meines Mannes, dachte ich, dass es nicht mehr weitergeht. Alles schien so sinnlos. Wäre mein Junge nicht gewesen.“

      Übergangslos sagte sie zu Alina: „Du kannst mich gern Sofia nennen.“

      Die beiden Frauen umarmten sich.

      Der Chef hatte die Morduntersuchung an sich gezogen. Das bedeutete allerdings nur, dass Krawczyk die Arbeit von Mazur übernehmen musste und er selbst sich aufraffte, Berichte zu lesen. Zumindest war ihm seit dem Überfall auf seinen Mitarbeiter klar, dass es sich nicht um einen Raubmord handelte und Klimek unschuldig war.

      Es ging bei dem Fall um abgrundtiefen Hass gegenüber einer Frau. Doch warum bricht der Täter


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