Der dicke Mann. Wolfgang Armin Strauch
Читать онлайн книгу.vergessen würde. Viel wichtiger waren die Ergebnisse seiner Recherchen. Die Auftraggeber würde zufrieden sein und er den Lohn dafür einstreichen.
Der Mann trank den Rest Kaffee aus und zahlte.
In der Kirche hatte man die beiden Särge nebeneinander aufgestellt. Große Fotos zeigten die Verschiedenen. Auf dem Bild von Tadeusz Klimek war er in Offiziersuniform mit vielen Orden zu sehen. Jadwigas Foto war eher unscheinbar. In einem Sommerkleid sah sie freundlich auf die Trauergäste herab.
Wie verabredet, saßen links Bekannte von Alinas Großvater. Viele von ihnen waren in Militäruniform mit Orden erschienen. Auf der rechten Seite hatten Nachbarn, Bekannte und ehemalige Arbeitskollegen von Jadwiga Platz genommen. Alina hatte sich in die erste Reihe gesetzt. Sie hatte Andrzej und Sofia gebeten, sie zu begleiten.
Mazur hatte sich extra bei seinem Chef die Genehmigung geben lassen. Dieser hatte damit kein Problem, da er bis auf Weiteres von dem Fall abgezogen war. Allerdings hatte er Krawczyk abgestellt, um auf dem Friedhof ein paar Bilder zu machen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich Mörder bei der Beisetzung sehen lassen. Außerdem dümpelte der Fall vor sich hin. Nachdem klar war, dass Tadeusz Klimek als Täter nicht mehr infrage kam, blieben zwar die Nachfragen aus Warschau aus, doch ein offener Mordfall war ein Fleck auf seiner weißen Weste. Spätestens, wenn die nächste Beförderung anstand, würde er stören.
Im Vorfeld der Beisetzung hatte sich bei Alina ein Offizier von der Armee gemeldet, um die Zeremonie zu besprechen. Sie wollte erst ablehnen, stimmte dann aber doch zu. Der Offizier hatte darauf hingewiesen, dass sie einem Weltkriegshelden zustehe und die Beerdigungskosten anteilig übernommen würden. Der Kompromiss war, dass er auf eine Rede verzichtete, aber am Grab die üblichen militärische Gepflogenheiten erfüllt würden.
Nach einigem Hin und Her hatte sie sich mit dem Offizier und dem Pfarrer auf eine neutrale Totenrede geeinigt. Sie hatte dann selbst die wichtigsten Lebensdaten zusammengetragen und dem Pfarrer übergeben. Andrzej hatte dafür gesorgt, dass sie schnell den Erbschein bekam, doch war ihr bisher nicht klar, wie viel Geld überhaupt vorhanden war. Die Bank hatte die Konten für sie noch nicht freigegeben. Das Guthaben ihres eigenen Sparbuchs und etwas Bargeld, das bei Jadwiga gefunden wurde, deckten gerade so die Unkosten.
Die ersten Orgeltöne erklangen und die Trauergäste erhoben sich. Das Musikstück war schwermütig und ergreifend. Alinas Augen füllten sich mit Tränen. Sie suchte ihr Taschentuch. Mazur hatte es gemerkt und ihr seines gereicht. Sie nahm es dankbar und schaute zu ihm auf. Er nickte ihr kurz zu. Sie zog ihn an sich. Der letzte Ton verklang und die Trauernden setzten sich.
Der Pfarrer zog ein trauriges Gesicht. Es schien wie eingeübt, denn er kannte die Verstorbenen nicht. Der Lebenslauf hatte nichts mit der Wahrheit zu tun. Jeder wusste es und jeder akzeptierte es. Man soll die Toten ruhen lassen.
Alina hörte nicht auf den Inhalt der Worte. Kindheitserinnerungen vermischten sich mit den Ereignissen der letzten Tage. Wortfetzen und Bilder verschwammen.
Die Orgel holte sie in die Wirklichkeit zurück. Die Zeremonie ging zu Ende. Auf ein Zeichen des Pfarrers erhoben sich die Anwesenden. Männer mit weißen Handschuhen hoben die Särge auf und trugen sie zu dem am Ausgang bereitstehenden Transportwagen. Sie hakte sich bei Andrzej und Sofia ein. Beim Hinausgehen staunte sie, dass so viele Menschen gekommen waren. Ihre Tränen verhinderten aber, dass sie die Leute erkannte. So sah sie zum Boden und ließ sich bis zu den offenen Gräbern führen, an denen eine Gruppe Soldaten stand.
In der Kirche hatte in der letzten Reihe ein Mann gesessen, der die ganze Zeit den Kopf geneigt hielt. Man hätte meinen können, dass er tief in ein Gebet versunken war. Doch er war nur hier, um zu hören, ob Eva tot ist. Als in der Leichenrede davon gesprochen wurde, dass der Großvater seine Enkelin Alina aufgezogen hatte, weil deren Mutter verstorben war, huschte kaum merklich ein Lächeln über das Gesicht des Mannes. Als er die junge Frau im Vorbeigehen sah, war es für ihn eine tiefe Genugtuung. Er schloss sich dem Trauerzug nicht an, denn sein Zug fuhr in einer Stunde. Er bemerkte nicht, dass Adam Krawczyk ihn, wie alle anderen Trauergäste, fotografiert hatte.
Am Grab sprach der Pfarrer einige Worte. „Erde zu Erde. Staub zu Staub.“
Alina erschrak beim Ehrensalut der Soldaten. Die Särge wurden in die Gruben hinabgelassen und sie spürte die Endgültigkeit des Ereignisses. Ein sanfter Wind erfasste ihre Haare und sie wünschte sich, dass es irgendwo einen Platz gab, an dem Jadwiga Ruhe finden würde. An ihren Großvater dachte sie nicht. Sie lehnte sich an Mazur, der sie fest an sich drückte.
Sie warf Kies auf die Särge, hielt etwas inne und trat dann zur Seite. Alles so, wie man es ihr gesagt hatte. Die anderen Trauergäste taten es ihr gleich. Sie hatte in der Traueranzeige gebeten, von Beileidsbekundungen am Grab abzusehen. So gingen die Leute an ihr vorbei. Manche nickten ihr zu.
Am Ende kam eine alte Frau auf sie zu, die ihr bekannt vorkam.
„Alina. Es tut mir so leid!“
Sie umarmte Alina. Erst jetzt erkannte sie Hanka Wrobel, die auf sie aufgepasst hatte, als sie ein Kind war.
„Wir haben uns viel zu erzählen.“
Alina nickte ihr zu. Sprechen konnte sie nicht. Sofia hatte einen kleinen Imbiss vor Ort vorbereitet. Sie wollte nicht in die Wohnung der Klimeks kommen. Irgendwann würde sie es tun, aber auf keinen Fall heute. Hanka Wrobel erlöste sie aus der Spannung. Sie erzählte kleine Episoden aus Alinas Kindheit. Vieles kam ihr bekannt vor. Jedoch fehlten die Verbindungen. Doch Tropfen für Tropfen vermengten sie sich. Es schien, dass sich eine Schleuse öffnete, die die Vergangenheit festgehalten hatte. Puzzlestücke wurden zu einem Ganzem. Sie sah sich mit Jadwiga im Park, an der Weichsel und sogar die Erinnerung an Kleinigkeiten wurde wach. Sie sah ihr buntes Kleidchen, das sie zum Geburtstag bekommen hatte. Doch ein Bild fehlte: das ihrer Mutter.
Alina fragte: „Hast du eigentlich meine Mutter kennengelernt?“
Hanka Wrobel senkte den Kopf und antwortete: „Ja. Kurz vor Ende des Krieges habe ich sie getroffen.“
Sie machte eine Pause. Dann sah sie Alina an.
„Sie war so blutjung wie du und so lebenslustig. Wir hatten einen Büchertransport aus Graudenz zu begleiten. In der Mittagspause waren wir in dem Bücherladen, in dem sie gearbeitet hat. Jadwiga hatte etwas für sie mitgebracht. Wir waren nur ein paar Minuten da. Trotzdem habe ich bis heute das Bild vor mir, wie sie uns zum Abschied zuwinkte.“
Hankas Augen füllten sich mit Tränen.
„In Krakau wurden wir von der Gestapo festgenommen. Jadwiga kam nach Auschwitz. Ich wurde ein paar Tage später freigelassen. Hat sie dir denn davon nie etwas erzählt?“
„Nein. Jadwiga wollte mich nicht mit den alten Geschichten belasten. Immer wenn ich sie danach gefragt habe, fing sie an zu weinen.“
„Ich weiß ja auch nicht alles. Sie hatte mir nach dem Krieg erzählt, dass sie in Bücherkisten irgendwelche Dinge für die Untergrundarmee geschmuggelt hat. Vor 1939 hatte sie schon im Archiv der Universität gearbeitet. Sie konnte ausgezeichnet Deutsch und Lateinisch. Daher betreute sie historische Bestände aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Damals hatte sie sich in einen Doktoranden verguckt, der Bücher bei ihr auslieh. Ich glaube, er hieß Zygmunt Rosinski. Bevor es zwischen den beiden richtig ernst werden konnte, überfiel Deutschland Polen. Die Universität wurde geschlossen und viele Professoren verschwanden. Wir hatten große Angst. Doch die Bücherei blieb verschont, weil die Deutschen sie für ihre Zwecke nutzen wollten. Wir durften weiterarbeiten.
Im Laufe der Zeit bekamen wir viele Lieferungen historischer Bücher, die katalogisiert wurden. Sie stammten von enteigneten Juden und konfiszierten privaten Sammlungen. Manchmal fanden wir in den Büchern Stempel der Eigentümer, Widmungen und persönliche Briefe. Jadwiga sorgte sich sehr um ihren Zygmunt, der im Judenviertel ein Zimmer hatte. Zwar wusste sie nicht, ob er Jude war oder nur zufällig dort gewohnt hatte. Da sie ihn seit dem Einmarsch aber nicht mehr gesehen hatte und auch seine Kameraden verschwunden waren, hatte sie befürchtet, dass er sich im Getto befand.
Doch dann erhielt sie eine Buchbestellung, bei der sie sofort wusste, dass sie von ihm kam. Der Titel des