Demokratie und Sozialismus und Freiheit. Frank Kell
Читать онлайн книгу.Vergleich, Göttingen 1993, S. 84-114.
2. Perspektiven auf 1989/90
30 Jahre danach hat sich in den Auseinandersetzungen mit den Ereignissen von 1989/90 in der DDR das Wortpaar „friedliche Revolution“ bzw. der Eigenname Friedliche Revolution als gültiger Begriff vorerst durchgesetzt.19 Obwohl der Revolutionsbegriff bis heute unter den damals beteiligten Akteuren der Bürgerrechtsbewegung stärker noch als unter den Historikern umstritten ist,20 konnte dieser sich mit seinem auf Gewaltlosigkeit abhebenden Adjektivzusatz im öffentlichen Sprachgebrauch etablieren. Die Charakterisierung der Ereignisse als „friedliche Revolution“ geht wohl auf den damals Regierenden Bürgermeister West-Berlins, Walter Momper, zurück, der in seiner Rede vor dem Schöneberger Rathaus am Tag nach dem Mauerfall „die Bürgerinnen und Bürger der DDR zu ihrer friedlichen und demokratischen Revolution“ beglückwünschte. Nachdem auf den Protestveranstaltungen des Herbstes 1989 viel von der „friedlichen Revolution“ geredet worden war und sich der Resonanzrahmen des Begriffs in ost- und westdeutschen Medien erheblich ausgeweitet hatte, nahmen auch führende bundesdeutsche Politiker wie Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Bundeskanzler Helmut Kohl die Wendung Mompers in ihren umjubelten Ansprachen auf und etablierten damit die Identität eines gewaltlosen und revolutionären Umbruchs.21 Nachfolgend bezeichnete selbst DDR-Ministerpräsident Hans Modrow das „zu Ende gehende Jahr 1989“ in seiner Neujahrsansprache „als das Jahr der friedlichen Revolution“ und auch das erste frei gewählte Parlament der DDR stellte im April 1990 in einer ersten Erklärung fest: „Die Bevölkerung der DDR hat durch ihre friedliche Revolution im Herbst 1989 die trennende Wirkung der menschenverachtenden innerdeutschen Grenze beseitigt.“22
Die Verankerung eines von den politischen Akteuren der Zeit geprägten Revolutionsbegriffs mit dem Adjektiv „friedlich“ als charakterisierendes Auszeichnungsmerkmal im historisch-politischen Sprachgebrauch der Gegenwart ist insofern historisch vereinfachend, als vom SED-Regime noch bis zum Tag des erzwungenen Nichthandelns auf der Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 Gewalt in Form von „Zuführungen“, Prügeleien und Drangsalierungen gegen Teilnehmer der von staatlicher Seite zunächst als „Konterrevolution“ kategorisierten Proteste ausging.23 Auch nach diesem „Tag der Entscheidung“,24 der die „Kapitulation der Staatsmacht“25 einläutete, war die Furcht der Demonstrierenden vor Gewalt und Repression nicht plötzlich verflogen, sondern bis in den Winter hinein handlungsleitend präsent.26 Obwohl das Wortpaar „friedliche Revolution“ das Gewalthandeln des Regimes verdrängt und das über den 9. Oktober hinaus bestehende Drohpotential vernachlässigt, trifft das Adjektiv „friedlich“ andererseits bedeutende Aspekte der Entwicklung. Es hebt nicht nur auf das Abrücken der sowjetischen Staatsführung unter Michail Gorbatschow von der seit 1968 gültigen Breschnew-Doktrin als einer wichtigen Bedingung für das Ausbleiben einer „chinesischen Lösung“ in jenen in Bewegung geratenen Peripherien des Imperiums ab, sondern vor allem auf die Gewalt ächtenden Demonstrationsformen und die Protestparole „Keine Gewalt!“, die als Hoffnung, Selbstanspruch und Handlungsstrategie der Opposition im Herbst 1989 omnipräsent war.27
In einem von staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren geförderten Selbstverständnis bundesdeutscher Erinnerungskultur wirkt die Friedliche Revolution heute als positiv besetzter Erinnerungsort der jüngsten deutschen und europäischen Zeitgeschichte. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert symbolisiert dieser Begriff den im Gewaltverzicht der Proteste liegenden Erfolg einer von unten herbeigeführten Revolution in Deutschland gegen Diktatur, für die liberale Demokratie und staatliche „Einheit in Freiheit“.28 Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 ist das Schlüsselereignis, die Bilder des friedlich-emotionalen Grenzübertritts zahlreicher DDR-Bürger die übliche Visualisierung dieser Erzählung. Mompers Glückwunsch an die friedlichen Revolutionäre in der DDR war ja bereits unmittelbar auf die Ereignisse und Bilder dieses Datums bezogen und auch Kohl wandte sich in seinen Reden über die „friedliche Revolution“ stets an diejenigen Demonstrierenden, die seit dem Mauerfall und seiner Zehn-Punkte-Initiative Ende November vermehrt dem politischen Programm einer staatlichen Vereinigung folgten. Die spätere Aufladung des Begriffs ist also bereits in seiner zeitgenössischen, politisch motivierten Verwendung als Wortpaar „friedliche Revolution“ angelegt. Eingebettet in die Meistererzählung eines „langen Weges nach Westen“ oder einer „geglückten Demokratie“,29 dient die Friedliche Revolution als historisches Schlüsselereignis und erzählerischer Fluchtpunkt der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. In der zeitlich längeren Perspektive enden mit ihr die deutschen Sonderwege;30 in der zeitlich kürzeren fungiert sie als Meilenstein der erfolgreichen politischen und kulturellen Westintegration Deutschlands nach 1945. Insofern irrt Andreas Rödder in seiner als „deutsche Revolution“ gedeuteten „Geschichte der Wiedervereinigung“, wenn er in dem Begriff der Friedlichen Revolution das Wirken „der Opposition bzw. der Bürgerbewegung […] als verursachende Kraft für das Ende des SED-Staates“ überbetont sieht.31 Vielmehr hat sich die Friedliche Revolution zu einem Integrationsbegriff im Pathos einer nationalen Freiheits- und Einheitsbewegung entwickelt,32 der – zeitgenössische Zielvorstellungen marginalisierend – Akteure und Ereignisse der Jahre 1989/90 zu umschließen versucht und aufgrund seiner narrativen Reichweite gewiss normativ aufgeladen ist, aber nicht, wie Rödder meint, im Sinne der politischen Ideen der „Bürgerbewegung“, sondern im Geiste eines nationalen historischen Fortschritts hin zu einer freiheitlichen Demokratie westlicher Prägung in Deutschland.33
In Deutungskonkurrenz zur Friedlichen Revolution steht der Begriff der Wende, der sich im alltäglichen Sprachgebrauch der meisten ostdeutschen Zeitgenossen bis in die Gegenwart hinein etablieren konnte. Die Wende geht in ihrer für die Ereignisse von 1989/90 ausschlaggebenden Bedeutung als gesellschaftlicher Reformbegriff auf Michail Gorbatschow, im deutschen Kontext auf den Dresdner Schriftsteller Volker Braun und schließlich auf eine Titelseite des Magazins Der Spiegel vom 16. Oktober 1989 zurück.34 SED-Generalsekretär Egon Krenz, der heute meist als Urheber des Begriffs gesehen wird, versuchte diesen zu einem Zeitpunkt machtkalkulierend zu besetzen, als der Partei nach der Abdankung Erich Honeckers im Oktober 1989 keine andere Option mehr blieb, als zumindest rhetorisch auf einen Kurs der „Umgestaltung“ einzuschwenken. Heute betont die Wende weniger das Wie und Wofür der Demonstrationen im Herbst 1989, als vielmehr die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der staatlichen Vereinigung in den 90er Jahren und die damit verbundene Erfahrung eines tiefgreifenden sozialen Wandels. Diese Feststellung ist umso erstaunlicher, als damit die Protagonisten der Friedlichen Revolution zur Beschreibung ihres Verständnisses von den Ereignissen der Jahre 1989/90 nicht etwa das positiv besetzte Angebot, mit eigener Kraft die SED-Diktatur überwunden und die Voraussetzungen für Demokratie und nationale Einheit geschaffen zu haben, bedienen, sondern stattdessen mehrheitlich die gesellschaftlichen Folgen des Zerfalls der DDR und der staatlichen Vereinigung, die Zeit der Transformation in den Mittelpunkt ihrer Erinnerung stellen. Gegen das Geschichtsbild der Friedlichen Revolution mit seiner Perspektivierung auf den von unten herbeidemonstrierten und von