Demokratie und Sozialismus und Freiheit. Frank Kell
Читать онлайн книгу.Ausgangs im Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepublik nachvollziehen.55 Wolfgang Templin, Gründungsmitglied der Initiative Frieden und Menschenrechte, schreibt in seinem 2010 veröffentlichten Essay über das „unselige Ende der DDR“:
„Im Bewusstsein, auf ihre Weise zum glücklichen Ausgang des kurzen 20. Jahrhunderts beigetragen zu haben, halten die meisten Beteiligten von 1989/90 an der Vorstellung von der Befreiungsrevolution fest – als Teil einer Kette von Befreiungsrevolutionen, in welcher für die DDR die Mauer fiel und für die Länder des Ostblocks der Eiserne Vorhang.“56
Die Formulierung „Befreiungsrevolution“ knüpft in ihrem Wortlaut und ihrer Symbolkraft unmittelbar an den Paradigmenwechsel des bundesdeutschen Umgangs mit der NS-Vergangenheit an, den 8. Mai 1945 nicht als Tag der militärischen Niederlage, sondern als „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ zu erinnern, den Bundespräsident Richard von Weizsäcker mit seiner vielbeachteten Rede zum 40. Jahrestag der Kapitulation einzuläuten begann. Wenn nun das Ende der Diktaturen von 1945 und 1989 durch Templin gleichermaßen mit „Befreiung“ assoziiert wird, spiegeln sich darin zugleich seine persönlichen Erfahrungen mit dem Repressionsapparat des SED-Staates – er wurde Opfer von „Zersetzungsmaßnahmen“ des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), 1988 verhaftet und ausgebürgert – und der Einfluss totalitarismus-theoretischen Denkens in der Bürgerrechtsbewegung. Die DDR erscheint in dieser Deutung nicht nur als autoritäres Regime, sondern als totalitärer, Staat und Gesellschaft homogenisierender Ordnungsentwurf, der sich bloß in Farbe und Radikalität, nicht aber im Prinzip von der NS-Diktatur unterschieden habe.57 Für die Revolution von 1989/90 fallen Befreier und Befreite in der Perspektive einer „Befreiungsrevolution“ in eins. Die demonstrierenden Bürger der DDR hätten sich in einem Akt der „Selbstbefreiung“ den entfremdenden Implikationen und repressiven Strukturen der SED-Diktatur entledigt und damit „die Freiheit“, die die Freiheit von staatlicher Bevormundung und die Freiheit zum selbstbestimmten Leben meint, bereits gewonnen, als von nationaler Einheit noch gar keine Rede war. Der Mitbegründer von Demokratie Jetzt und Abgeordnete von Bündnis 90 in der frei gewählten Volkskammer, Wolfgang Ullmann, betonte in seiner Rede auf der Gründungsversammlung des „Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder“ im Juni 1990 diesen Sinnmoment der „Befreiung“, indem er die Bedeutung der Alexanderplatz-Demonstration vom 4. November 1989 für das politische und historische Selbstverständnis der Bürgerrechtsbewegung unterstreicht:
„Man stellte die Frage, welches Datum ich für einen künftigen Nationalfeiertag aller Deutschen vorschlage. Zur Auswahl standen der 8. Mai, der 17. Juni und der 9. November. Für keines dieser drei Daten konnte ich mich so recht erwärmen. […] Am nächsten läge mir, den 4. November vorzuschlagen, weil an jenem Tage in Berlin die Volkskammer vom Volk der friedlichen und gewaltlosen Demokratie besetzt worden ist. […] Es könnte die Antizipation eines noch nicht festliegenden Nationalfeiertages sein, an dem wir die Inkraftsetzung einer neuen, von den Deutschen aller Länder beschlossenen Verfassung feiern.“58
Die von Ullmann hier vorgenommene Interpretation des 4. November als vor allem symbolische Inbesitznahme des Staates und seiner Repräsentationen durch die demonstrierenden Bürger der DDR59 beschreibt den Höhepunkt in der bei Bohley, Weiß und Templin greifbaren Erzählung der Revolution von 1989/90 als Akt gesellschaftlicher und individueller „Befreiung“.60 Bis heute ist für die Gesellschaftsreformer der DDR-Bürgerrechtsbewegung daher nicht der 9. November 1989 oder der 3. Oktober 1990 zentraler Bezugspunkt und Erinnerungsort, sondern jene Demonstration der „Kunst- und Theaterschaffenden“ Ostberlins.61 Dieses Datum steht in den Augen der Akteure wie kein anderes Ereignis der Revolution für den kurzzeitigen Rückhalt der Bürgerrechtsbewegung in der Bevölkerung und für ihr politische Selbstverständnis einer „zivilen Gesellschaft“ abseits von Staatssozialismus und Kapitalismus.62 Der Wunsch Ullmanns nach einer gesamtdeutschen Verfassungsdiskussion entsprach dabei dem Versuch, das prozessorientierte Politik- und Demokratieverständnis der Bürgerrechtsbewegung in den seit dem Mauerfall einsetzenden und rasch an Bedeutung gewinnenden Wiedervereinigungsdiskurs einzubringen.63 Dass sich die Ereignisse überhaupt in diese Richtung entwickelten bzw. die Zielvisionen der Bürgerrechtsbewegung weder in der Verfassungsdiskussion der staatlichen Vereinigung noch im weiteren Verlauf des Vereinigungsprozesses breitere Gestaltungskraft erlangen konnten, ließ Akteure wie Konrad Weiß von einer „missglückten“, andere von einer „gezähmten“, „unvollendeten“ oder „abgebrochenen“, wiederum andere gar von einer „geklauten“ oder „abgetriebenen Revolution“ schreiben.64 „Wir konnten die Demokratie nicht selbst entwickeln, das Bonner Nilpferd hat die kleine Pflanze totgetreten“,65 lautete das Urteil Jens Reichs, Koautor und Erstunterzeichner des im September 1989 veröffentlichten Gründungsaufrufs des Neuen Forums.
Diese konkurrierenden Perspektiven auf die Revolution von 1989/90 zeigen an, dass der „demokratische Aufbruch“ in der DDR nicht einheitlich motiviert und nicht zielgerichtet auf die staatliche Vereinigung orientiert gewesen war, sondern von verschiedenen Akteursgruppen mit unterschiedlichen politisch-ideologischen und habituellen Dispositionen initiiert und getragen wurde. Die sich in Begriffen manifestierenden und in Deutungskonkurrenz zueinanderstehenden Sichtweisen auf die Ereignisse und Entwicklungen sind das Ergebnis unterschiedlicher, zum Teil widerstrebender oder konvergierender Problemdeutungen und Selbstverständnisse, Zielperspektiven und Handlungsstrategien, die während des Zusammenbruchs der SED-Diktatur im Herbst und Winter 1989/90 als historisch gewachsene oder spontan entstehende, sich verschränkende oder einander gegenüberstehende und sich abstoßende Konstellationen aufeinandertrafen.66 Wende, Friedliche Revolution und „Befreiungsrevolution“ sind Begriffe bzw. begriffsähnliche Beschreibungen, die im unmittelbaren Kontext des Geschehens als reine Darstellungen, erste Reflektionen und politische Programmbegriffe entstanden und daher aufs Engste mit den Akteuren der Zeit, ihren Weltdeutungen, Interessen und Handlungsstrategien verbunden sind. Die Erinnerung an die Revolution von 1989/90 in Publizistik und öffentlichem Bewusstsein, die wie kein anderes Ereignis der jüngsten deutschen Zeitgeschichte bis heute in beachtlichem Ausmaße von direkt oder indirekt am Geschehen Beteiligten geprägt wird, aber auch die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex haben diese Quellenbegriffe zu konträren, normativ aufgeladenen Deutungskomplexen fort- und festgeschrieben. Es scheint, als sei bis heute keine adäquate Analysesprache gefunden, um die Geschehnisse von 1989/90 über die zeitgenössischen Selbstdeutungen hinaus zu beschreiben und zu analysieren.
19Bernd Lindner: Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90, 5. Aufl., Bonn 2010, S. 175 meint, dass der Begriff Friedliche Revolution spätestens seit dem 20-jährigen Mauerfalljubiläum im Jahr 2009 allgemeingültige Verwendung gefunden hat. Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Philipp Ther: 1989 – eine verhandelte Revolution, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.02.2010, URL: http://docupedia.de/zg/1989, Stand: 19.01.2018.
20Vgl. Konrad H. Jarausch: Der Umbruch 1989/90, in: Martin Sabrow (Hg.): Erinnerungsorte der DDR, Munchen 2009, S. 526-535, hier S. 532f.
21Vgl.