Tetralogie des Erinnerns. Gerhard L. Durlacher

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Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher


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Auf seinem Rücken ein voller Jutesack, den er brummend mitten auf der Bühne auf den Boden stellt. Eindringliches Geflüster entlang den Reihen: »Der Weihnachtsmann, schau, der Weihnachtsmann.« Statt des erwarteten Märchenspiels, von dem meine Eltern mir zu Hause erzählt haben und dessen Melodien mir als Schlaflieder vertraut sind, steht dort ein Weihnachtsmann und macht mir Angst mit seiner Rute und dem Sack, in den er die Kinder steckt und mitnimmt.

      Von seinem hohen, beleuchteten Platz herab spricht er zu uns, aber was er sagt, dringt nicht zu mir durch. Dann nennt er einen Namen oder zeigt auf ein Kind, das zu ihm heraufkommen soll. Einige sind in Tränen aufgelöst, andere klettern ganz mutig auf die Bühne. Mit polternder Stimme fragt er, ob das Kind in diesem Jahr ungehorsam gewesen sei. Er läßt die Rute liegen und packt Honigkuchen und Marzipan aus dem Sack, wenn der Junge oder das Mädchen ein Lied für ihn singt oder ein Gedicht aufsagt.

      Das Herz stockt mir schier vor Schrecken, als ich meinen Namen höre. Mit glühendem Gesicht und Tränen in den Augen versuche ich vergeblich, meine Freiheit zu verteidigen. Der verlockende Lebkuchen und die ermutigenden Worte meiner Mutter reichen nicht aus, das Gefühl der Beklemmung zu vertreiben. Dann vernehme ich ein kichernd geflüstertes »Hosenscheißer« hinter mir und zornig stoße ich die Knie beiseite, die mir den Weg zum Seitengang versperren.

      Die Stufen zur Bühne sind höher als vermutet, und als ich in die Schlucht des Orchestergrabens hinunterblicke, vergesse ich die Angst vor dem Weihnachtsmann. Hier oben sieht er viel größer aus. Er winkt mir freundlich zu und zögernd gehe ich über den Bretterboden zu ihm hin. Ich wage nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Die Reisigrute und der Sack halten mich in ihrem Bann, und als er brummend fragt, ob ich artig oder ungezogen war, antworte ich mit heiserem Flüstern.

      Ich kann ihm ja nicht gut von meiner Missetat im Café Schweinfurt berichten, wo ich aus Langeweile und Ärger über das endlose Geschwätz meiner Tanten mit der Inhaberin alle Schokoladenröllchen und Kirschen von einer großen weißen Schwarzwäldertorte geklaubt und mir in den Mund gesteckt habe.

      Ob ich ihm ein Lied vorsingen wolle? Ein Gedicht aufsagen? Meine Kehle ist wie zugeschnürt, mein Kopf wie eine Windmühle. Er brummt: »Kommt ein Vogel geflogen ...« Ich versuche zu singen, aber kein Ton kommt aus meinem Mund. Im Saal werden Stimmen laut. Er beugt sich vor und hält mir sein Ohr hin, damit ich hineinflüstere.

      Dieses Ohr kenne ich, auch das Haar drumherum, und als ich seine Augen aus der Nähe sehe, weiß ich, daß jetzt alles gut ist. Die Angst verfliegt, ich möchte ihn umarmen.

      Meine Kehle wird frei und meine Stimme jubelt: »Du bist ja gar nicht der Weihnachtsmann, du bist der Onkel Herbert!«

      Ich merke, daß er erschrickt und mit zusammengepreßten Lippen lächelt, als von unten Zischen und schallendes Gelächter ertönt. Warum der Nachbar, der über uns wohnt, der Schauspieler, der so oft zum Kaffee zu uns kommt, jetzt auf einmal den Weihnachtsmann spielt, verstehe ich nicht. Ich singe ihm das Liedchen, das er mir vorgebrummt hat, ins Ohr, bekomme ein großes Lebkuchenherz und steige im grellen Scheinwerferlicht glücklich und zufrieden die Treppe neben dem gruseligen Orchestergraben hinunter.

      Auf dem Weg zu der Reihe, wo meine Eltern sitzen, schauen mich die Leute mit schmunzelnden oder bösen Gesichtern an.

      An vielen Knien vorbei schiebe ich mich zu meinem Platz. Ich bin noch ganz benommen von meinem Abenteuer, so daß ich die Bemerkungen der Zuschauer gar nicht höre. Die blonden Mädchen in der Reihe hinter mir wenden den Blick ab, als sei ich Luft. Ihr Vater beugt den Kopf mit der kurzgeschnittenen Stoppelfrisur zu mir herüber und herrscht mich wütend an: »Frecher Judenbub, ich könnte dich ...«

      Die folgenden Worte gehen in den ersten Takten der Ouverture unter und mit klopfendem Herzen warte ich, bis der Vorhang aufgeht.

      KERZEN UND FACKELN

      »Boruch ...« »boruch ...« »Atho ...« »atho ...« »Adonai...« »adonai«: Wort für Wort plappere ich die unverständlichen Segenssprüche nach, die meinen unsicheren Versuchen vorangehen, mit einer brennenden Kerze eine andere Kerze anzuzünden. Auf dem halbrunden Deckel einer Keksdose, die mit roten Rosen auf weißem Grund bemalt ist, steht eine Kerze, die ich, befangen von der Feierlichkeit des Augenblicks, beinahe umstoße.

      Links und rechts von mir drei festlich dunkel gekleidete Gestalten mit schwarzen Hüten und ernsten Feiertagsgesichtern, erhellt vom flackernden Schein der drei Chanukka-Leuchter auf dem Buffet. Mein Vater, Onkel Jacob, Großmutters jüngerer Bruder, und Albert, der »Sekretär-Onkel« mit demselben Nachnamen aber undurchschaubarer Familienzugehörigkeit, haben unter Absingen der drei Segenssprüche in einer fremdartigen, eintönigen Melodie die erste Kerze auf ihrer Menora angezündet; zuerst Onkel Jacob als ältester. Ich schäme mich über meine Unwissenheit und ärgere mich, weil ich als Jüngster mein Licht nur auf dem Deckel voller Wachsflecke anzünden darf.

      Hinter mir Großmutter, Mutter und Tante, auch sie in festlichen Kleidern mit einem Schal auf dem Kopf, als wäre es hier drinnen kalt. Beifälliges Gemurmel und Seufzer der Erleichterung werden laut, als meine Kerze aufflammt. Endlich bin ich fertig mit dem Nachsagen der fremden Laute. Großmutter legt die Hände auf mein Käppchen, murmelt ein paar hebräische Worte und endet mit demselben Wort, mit dem ich gelernt habe, mein Abendgebet zu beschließen: Omein. Dann flüstert sie, für alle hörbar: »Wenn du die Broches aufsagen kannst, bekommst du von mir eine Menora, ganz für dich allein.«

      Der Tisch mit den Päckchen lenkt wie ein Magnet meine Aufmerksamkeit von dem Chanukkalied ab. Alle singen es auf ihre eigene Weise, ohne auf Vater zu achten, der die Melodie auf dem Flügel spielt und versucht, uns mit seiner Kantorstimme den Takt vorzugeben.

      Erleichtert trage ich die Hüte in den Gang. Das Fest, von dem meine Mutter meint, es sei wie Weihnachten, kann beginnen. Ein Baum, wie andere Kinder ihn zu Hause haben, mit Päckchen an den Zweigen, mit Lichtern, Girlanden, Nüssen und Lebkuchenherzen, wäre mir viel lieber, aber die große Schachtel auf dem Tisch verscheucht meine heimlichen Träume. Meine Finger sind steif vor Aufregung, als ich die faserige Schnur aufknüpfe.

      Minuten später rutsche ich auf den Knien über den großen Perserteppich mit dem breiten Rand, der jetzt eine Straße ist, auf dem mein neues rotes Feuerwehrauto dahinbraust. Chanukka ist auch sehr schön!

      Auf dem Leopoldsplatz, dem großen Platz, den ich nie überqueren darf, ohne daß jemand mich an der Hand hält, steht ein Riese von einem Tannenbaum, geschmückt mit Lichtern, Girlanden, silbernen Kugeln und unzähligen Sternchen. Davor ein Polizist in Grün mit einem schwarzen Helm wie ein umgestülpter Blumentopf, den er über die Wölbung des Hinterkopfes geschoben hat. Seine Arme gehen auf und ab wie bei einem Hampelmann und knicken an den Ellenbogen ein. Die ratternden Autos halten an, stinken, drehen eine Runde um den Baum und entfernen sich auf den Strahlen des Sterns, in dessen Mittelpunkt der Verkehrspolizist steht.

      Marias schützende, warme Hand umklammert meine kalte Faust und drückt sie vor Vergnügen, als der Baum in Sicht kommt. »Er ist größer und schöner als in den vorigen Jahren«, sagt sie mit einem Wölkchen vor dem Mund und steckt unsere beiden Hände in ihre kitzelnde Manteltasche, als wir vor dem großen Stamm auf dem groben Pflaster stehenbleiben.

      Jetzt fahren keine Autos mehr am Polizisten vorbei, wie es scheint, hat er nichts mehr zu tun. Um uns herum stehen Kinder mit ihren Vätern und Müttern. Ein Mädchen neben mir trägt Jungenschuhe und hat große gestopfte Stellen in den langen braunen Strümpfen. Daneben steht ihr Vater, ohne Mantel, und zittert in seinem viel zu weiten Anzug. Ich schäme mich zwischen den vielen armen Leuten, aber meine Befangenheit verfliegt im Nu, als die Musik zu spielen beginnt und mit den Hauchwolken das Lied »O Tannenbaum« aus allen Mündern erklingt. Marias helle hohe Stimme erhebt sich über die anderen Stimmen und mutig singe ich mit, obwohl das Lied zu Hause eigentlich verboten ist, aber sie erlaubt es mir. Niemals verrät sie unsere kleinen Geheimnisse. Immer ist sie für mich Wärme und Sicherheit.

      Ein Lied folgt dem anderen, meine Füße werden kalt und meine Aufmerksamkeit läßt nach.

      Durch die muffig riechende Menschenmenge drängen wir uns auf die gegenüberliegende Seite des Platzes. Angesichts der vorwurfsvollen


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