Tetralogie des Erinnerns. Gerhard L. Durlacher

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Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher


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und woher kamen sie? Die Antwort ist zu einfach, denn sie straft die Argumente Lügen mit einer Leichtigkeit, daß sie sogar heute noch ein Schlag ins Gesicht ist. Um die deutsche Treibstoffversorgung zu unterbinden, hatten die Amerikaner bereits 1943 den Plan »Operation Pointblank« vorbereitet. Im April 1944 entstand über der Region von Auschwitz die erste Serie von Aufklärungsfotos, die außer den Industrieanlagen auch das Lager deutlich zeigten. Nach der Invasion in Italien verfügten die Alliierten über den Flugplatz in Foggia, von dem aus sie mühelos über Poltava – hinter den russischen Linien – die Produktionsanlagen bei Auschwitz anfliegen konnten, und von dem aus sie auch während der »Operation Frantic« Anfang August 1944 den Widerstandstruppen in Warschau Hilfe leisteten.

      Die Verluste an Menschen und Material waren relativ gering. Die Bombenangriffe erfolgreich.

      Die verirrten Bomben auf Birkenau waren nichts als ein technischer Schönheitsfehler gewesen. Beim Versuch, der deutschen Luftabwehr zu entkommen, hatte sich ein alliierter Pilot seiner Bombenlast entledigt.

      Nachschrift

      Das Gefühl, daß die Welt mehr oder minder diskret wegschaut oder ungerührt zusieht, wie Hunderttausende systematisch getötet werden, während man selber weiß, daß jeder Tag, den man erlebt, ein böser Witz des Zufalls ist, dieses Gefühl läßt sich nicht in Worte fassen.

      Zähneknirschende Wut schlägt um in Resignation und Gleichgültigkeit, doch wenn man der Hölle lebend entkommen ist, blickt man erschüttert und ohne zu begreifen, zynisch oder apathisch oder ohnmächtig zurück.

      Es ist schwer, eine Haltung einzunehmen den Menschen gegenüber, denen man nach solchen Katastrophen begegnet. Wo haben sie damals gestanden? Haben sie weggeschaut oder zugesehen? Haben sie mitgemacht oder haben sie Widerstand geleistet?

      Die Fragen bleiben in der Kehle stecken. Das Mißtrauen und Verdrängen bleibt, vor allem das Verdrängen.

      Abstand gewinnen, Objektivieren kann helfen, kann die Wunden kühlen. Deshalb diese spekulative Nachschrift ohne wissenschaftliche Prätention.

      Warum haben in den Ländern der Achsenmächte so viele geschwiegen, so viele auch in den Ländern der Alliierten und in den besetzten Gebieten?

      Vor allem für Deutschland scheint die Erklärung einfach: Die Angst, als Strafe für Wissen oder Sprechen selbst dem Terror zum Opfer zu fallen, war begründet. Doch diese Angst war in anderen Ländern fehl am Platze. Auch bei den Opfern, den Juden und Zigeunern.

      Laqueur und Gilbert weisen deutlich nach, daß viel mehr über die Nazigreuel bekannt war, als angenommen wurde, auch bei der »einfachen« Bevölkerung. Warum also das Schweigen?

      Worte wie: Sadismus, Feigheit, Gleichgültigkeit und Opportunismus reichen nicht aus, obwohl man sie nicht ohne weiteres außer acht lassen kann. Ein stärkeres Argument ist die Erklärung, daß Menschen mit einem Gefühlsleben, das nicht völlig abgestorben ist, solche Berichte nicht an sich heranlassen können, ohne an Leib und Seele Schaden zu nehmen.

      Nur wenige können sich eine Welt vorstellen, in der alte Menschen, Kranke, Kinder und schwangere Frauen wie unnützer Abfall beseitigt werden, in der die Würde des Menschen mit Füßen getreten wird, in der ein Mensch nur noch ein von Ungeziefer befallenes Tier ist, solange brauchbar, wie sein Muskelgewebe nicht völlig aufgezehrt ist.

      Berichte über eine solche Welt können nicht wahr sein, denn sie stellen alle Werte in Frage, die wir kennen.

      Sogar Neuankömmlinge in Auschwitz und in den anderen Vernichtungslagern, die bei der Selektion der Gaskammer entkommen waren, vermochten in den ersten Tagen nicht zu glauben, daß die rauchenden Schornsteine nicht zu Fabriken gehörten. Die Geschichten, die ihnen von anderen Gefangenen zugeraunt wurden, verstanden sie als grausamen Scherz zur Eingewöhnung. Wenn die Wirklichkeit zu ihnen durchdrang, fiel zugleich Nacht über ihren Geist, wie es auch mir geschah. Dieses psychische Sicherheitsventil diente vermutlich den meisten Menschen mehr oder minder als Mittel zur Selbsterhaltung.

      Ein anderer Mechanismus, der dem Schweigen Vorschub leistete, war die Ungewißheit, was andere gehört oder gesehen hatten. Selbstverständlich hatte der eine oder andere bessere und verläßlichere Informationen, denen er mehr oder minder Glauben schenkte, was an sich noch kein Grund gewesen wäre, sich darüber auszuschweigen.

      Die Unsicherheit hingegen, inwiefern andere gleichfalls Bescheid wissen, kann allerdings die Lippen versiegeln. So ergab sich die Situation, daß die Menschen ohne Grund annahmen, ihre Kenntnis über die massenhaft betriebenen Grausamkeiten werde von anderen nicht geteilt, oder gerade umgekehrt, diese Kenntnisse wären allgemein bekannt.

      Und dann den Mund aufzumachen und zu protestieren, das erfordert Mut und Rückgrat.

      Das Dilemma: Wer glaubt mir, wenn ich als einziger das Unglaubliche zu wissen glaube, und wer schützt mich vor Spott und Strafe, wenn ich das allgemein Bekannte enthülle, war ohne große moralische Kraft nicht zu bewältigen.

      Diese Kraft aber ist die Voraussetzung für passiven und aktiven Widerstand und nur wenige besaßen sie.

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