Tetralogie des Erinnerns. Gerhard L. Durlacher

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Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher


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informierten Bürger hätte dies genügen müssen, um die Berichte über die Massenmorde in Polen glaubhaft erscheinen zu lassen, ohne den Nebengedanken an Greuelpropaganda. Und für Regierungen mit gutgeschulten Diplomaten und Geheimdiensten? War es Naivität oder vorgeschützte Angst, die Bürger könnten die Berichte mit Greuelpropaganda verwechseln? War es lediglich Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Millionen oder fällt die Erklärung weitaus zynischer – und realistischer – aus?

      Laqueurs Analyse ist beängstigend genug, erweckt in mir aber den Verdacht er schrecke vor der letzten Konsequenz zurück. Er schreibt: »Auch als man in London und Washington eingesehen hatte, daß die Angaben über die Massenmorde stimmten, sorgten die Regierungen Großbritanniens und der Vereinigten Staaten dafür, daß ihnen nicht zu viel Publizität gegeben wurde.« Warum diese Besorgtheit über zu großes Aufsehen? Bei den Juden in diesen Ländern ist die Furcht, als Panikmacher angesehen zu werden, durchaus begreiflich. Doch bei den nichtjüdischen Alliierten? Es sind genau diese Fragen, die uns heute noch genauso heftig schmerzen wie damals.

      Ich weiß nicht, ob Gilberts Buch bislang viele Leser gefunden hat. Für mich hat es viele quälende Fragen beantwortet. Die Sphinx ist gestürzt und alle Illusionen sind zerstört. Die Buchseiten stapelten sich wie Bleigewichte auf meinem Geist. Was muß Gilbert beim Schreiben dieser dreihundertfunfzig Seiten empfunden haben? Mit erschreckender Präzision zählt er in chronologischer Reihenfolge die Ereignisse, die Besprechungen, Aufzeichnungen und Memoranden der Allierten auf, die sich auf den Verlauf der Endlösung von Mai 1942 bis Mai 1945 beziehen.

      Politischer Zynismus, Opportunismus, Trägheit, Gleichgültigkeit, Haß und Naivität stehen gegenüber der Verzweiflung und dem Untergang der Verfolgten und ihrer Verwandten, Gefährten und Freunde.

      Die wenigen Gerechten in Amts- und Regierungsfunktionen wurden daran gehindert, mehr zu tun, als in strategischen und politischen Begriffen zu denken. Gilbert gibt nicht nur die katastrophalen Berichte wieder, sondern zeigt auch, wie Schritt für Schritt, mit jedem Bericht, die Namen der Vernichtungslager zum lähmenden Alptraum wurden.

      Es dauerte bis 1942, bevor die Alliierten sich in mühsam errungener Übereinkunft zu einer Erklärung bereitfanden, in der sie Deutschland wegen seiner Ausrottungspolitik verurteilten und in der von Vergeltung und Strafe die Rede ist. Auschwitz wird in dieser Erklärung noch nicht genannt. Es ist bloß ein Name auf der Karte, wenn auch auf einer strategischen Karte.

      Die Erklärung, mit großer Mühe zustandegekommen, hat keinen Einfluß auf die Vernichtungspolitik. Wie auch der Krieg verläuft, die endlos langen Viehwaggonzüge rollen unaufhaltsam weiter zu den Gaskammern in Polen.

      In den Jahren 1942–1943 ist die Flucht aus Bulgarien und Rumänien offenbar noch möglich. Aber der Transit durch die Türkei und die Zulassung im damaligen Palästina sind Barrieren aus Granit. Kolonialminister Lord Moyne und Kriegsminister Oliver Stanley im britischen Kriegskabinett lassen nicht einmal die niedrigen Einwandererquoten zu, die im White Paper von 1939 für jedes Jahr festgelegt waren.

      Trotz Fürsprache, politischem Druck, ja, sogar entgegen der flehentlichen Bitten von Chaim Weizman, Moshe Shertok und vielen anderen, blieben die lebensrettenden Tore geschlossen, außer für einige hundert Kinder, und auch das erst nach dem Eingreifen von Winston Churchill. Unterdessen waren die verrosteten Transportschiffe mit Hunderten von Flüchtlingen an Bord zurückgeschickt worden oder im Schwarzen Meer gesunken. Die Türkei und Großbritannien blieben unerbittlich. Die Politik im Mittleren Osten schien sichergestellt und Hadschi Amin el Husseini, Großmufti von Jerusalem, Freund und Vertrauter von Hitler, Himmler und Eichmann, war zufrieden.

      Aber auch im Westen waren alle Tore zu. Amerika und England riegelten ihre Küsten nahezu hermetisch ab vor den jüdischen Flüchtlingen, die Schweiz nahm nur wenige Prominente und Kinder auf, zwischen 1933 und 1945 insgesamt fünftausend Seelen.

      Vichy sah ebenfalls nicht nur zu, sondern trieb systematisch über Drancy die Juden in den Tod, zuerst die Emigranten, dann auch die Juden mit französischem Paß. Ein paar Tausend flohen über die Grenze in die von Italien besetzten Gebiete um Grenoble und Nizza. Und die Italiener sahen weg, halfen manchmal sogar tatkräftig. Die Absurdität der Geschichte!

      1944 dringen nach und nach Gerüchte über das am besten gehütete Geheimnis des Zweiten Weltkriegs in die Öffentlichkeit. Trotz der zur Beruhigung der Angehörigen verschickten Postkarten aus Auschwitz mit Poststempeln von nicht existierenden waldreichen Erholungsgebieten und einem Datum, an dem wir, wie wir heute wissen, ablesen können, daß der Absender eine Woche zuvor ums Leben gekommen war, ist einigen Slowaken klargeworden, was Auschwitz-Birkenau bedeutet. Doch die Berichte aus der Slowakei und Ungarn werden im Westen immer noch als Horrorgeschichten abgetan.

      Erst im April 1944, als Rudolf Vrba und drei Kameraden die Flucht gelungen war und aufgrund ihres mit großer Genauigkeit zusammengestellten Rapports über das fabriksmäßige Morden in Birkenau, geraten die Teilchen des Puzzles allmählich an ihren Platz. Überprüfungen und Nachprüfungen, Verhöre und Kreuzverhöre gehen der Verschickung des Rapports voraus. Die Bedenken der Partisanen und Juden, sie könnten in der Schweiz, in England und in den Vereinigten Staaten auf Ungläubigkeit stoßen, sind geradezu tragikomisch.

      Es dauert noch über drei Monate, bis die Schreckensbotschaften in den Hauptstädten der Alliierten eintreffen, und unterdessen verschlingen die Krematorien und Verbrennungsgruben täglich zehn- bis zwanzigtausend Unschuldige. Höchste Eile ist geboten. Hunderttausende Juden in Ungarn könnten noch gerettet werden, Tausende aus den anderen deutschen Besatzungsgebieten. Shertok und Weizmann bitten den britischen Außenminister Eden im Namen der Jewish Agency, die Bahngeleise nach Auschwitz und die Krematorien und Gaskammern bombardieren zu lassen.

      John Pehle, Direktor des War Refugee Board (Kriegsflüchtlingskomitees) in den Vereinigten Staaten geht als Vermittler zu John J. McCloy, dem stellvertretenden Kriegsminister, der nach 1945 als Hoher Kommissar der Vereinigten Staaten in Deutschland Albert Speer und dessen Familie in Schutz nahm und zum Tode verurteilte Kriegsverbrecher wie die Einsatzgruppenkommandanten Jost und Blum begnadigte. Pehle fordert, amerikanische Bomber auf diese Ziele einzusetzen.

      Ähnliche Bitten kommen aus der Schweiz, aus Polen, aus Ungarn.

      McCloy in Washington und Lord Sinclair in London reagieren zögernd und ausweichend. Ihre Argumente lauteten:

       – die Situation müsse untersucht werden;

       – die Bombardierung von Eisenbahnknotenpunkten sei nicht zweckmäßig, da diese rasch ausgebessert werden könnten;

       – die Flugstrecken seien zu lang, es könne nicht aufgetankt werden;

       – die Flugstrecken seien zu lang, das Risiko sei zu groß. Bombenangriffe auf die Krematorien in Auschwitz seien nicht möglich:

       – wegen der Flugabwehr müsse zu niedrig geflogen werden;

       – es könnten dabei zu viele Häftlinge getötet werden;

       – die Ziele seien wegen der Rauchwolken nicht deutlich erkennbar;

       – vorherige Aufklärungsflüge seien nicht möglich;

       – wegen der Kriegsführung im Westen stünden keine Flugzeuge zur Verfügung;

       – es gäbe zu wenig Freiwillige für solche Einsätze; schließlich:

       – gezielte Angriffe wie hier erforderlich lägen nicht im Rahmen der technischen Möglichkeiten.

      Gilbert, aber auch Lichtenstein, Wyman und Offiziere der amerikanischen Luftstreitkräfte, die 1944 Auschwitz überflogen haben, entkräften diese Argumente der Reihe nach mit unwiderlegbaren Beweisen.

      Hier ist nicht der Ort, im einzelnen darauf einzugehen. Nur die zwei eklatantesten will ich hervorheben für alle, die wie ich damals im August 1944 die weißen Streifen der Hoffnung sahen und den Donner der Freiheit in der Ferne hörten.

      Gilbert entdeckte in den Archiven des Foreign Office und in den Luftwaffenarchiven der Vereinigten Staaten und Großbritanniens Luftaufnahmen, die vor und nach den Bombenangriffen auf die Ölraffinerien und Fabriken von Monowitz, Blechhammer und Trzebinia gemacht worden waren.

      Präzise


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