Tetralogie des Erinnerns. Gerhard L. Durlacher

Читать онлайн книгу.

Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher


Скачать книгу
sind dieselben Fragen, die Laqueur und Gilbert quälen, doch bereits aus dem Untertitel ihrer Bücher geht hervor, daß der jüngere, 1936 geborene Gilbert mehr ertragen kann (oder konnte) als der um fünfzehn Jahre ältere Laqueur. Der Untertitel von Laqueurs Buch: Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers Endlösung offenbart gewissermaßen auch die Verdrängungsarbeit des Autors. Seine Geschichte endet im Dezember 1942 und er begründet diesen Zeitpunkt mit dem Argument, daß »die Mehrheit der Juden in Osteuropa wie auch Millionen Deutsche und viele Einwohner in den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten schon damals von der Massenvernichtung wußten«. Außerdem vermeidet er geflissentlich die Frage, was diese Menschen mit ihrem grauenhaften Wissen anfingen.

      Ich kann mir nur zu gut vorstellen, daß ein Mann wie Laqueur, 1921 zur Zeit der Weimarer Republik geboren, dessen Jugend durch die Nationalsozialisten zerstört wurde und der ihnen nur knapp entkam, eine solche Rationalisierung und Verdrängung braucht. Dennoch kann man das Datum des Dezember 1942 nur schwer akzeptieren. Keiner meiner Mithäftlinge noch ich selbst wußten von dem Fegefeuer von Birkenau, bevor wir durch das Haupttor getreten waren. Erst nachdem Vrba und Wetzler im April und später Rosin und Mordowicz im Mai 1944 die Flucht lebend überstanden hatten und erst als ihre Berichte den Alliierten vorlagen, konnte niemand, weder aus den Kreisen der Regierung und des Militärs, noch irgendein lesender oder hörender Bürger mehr mit gutem Gewissen behaupten: »Wir haben nichts gewußt.«

      Martin Gilbert hat seinem Buch den Untertitel gegeben: How the Allies responded to the news of Hitler’s Final Solution, und eine jener »responses«, nämlich die des englischen Diplomaten A. R. Dew, der auf dem Weg zur Konferenz von Jalta verunglückte, lautete am 7. September 1944: »Meiner Meinung nach wird hier im Amt unverhältnismäßig viel Zeit für die Beschäftigung mit diesen jammernden Juden vergeudet.«

      Die Arbeiten von Laqueur und Gilbert scheinen sich auf den ersten Blick in einigen Bereichen zu überschneiden, doch durch die Fragen, die sie stellen, ergänzen ihre Untersuchungen einander.

      »Mit diesem Buch«, schreibt Laqueur, »versuche ich, eine Antwort auf die folgenden Fragen zu finden: – Wann erfuhren Juden und Nichtjuden zum erstenmal von der ›Endlösung‹?

       – Über welche Kanäle wurden die Berichte verbreitet? – Wie war die Reaktion derer, die davon hörten?«

      Er stellt sich dabei unter anderem die Aufgabe, nachzuweisen, daß ein großer Teil der Bevölkerung in Deutschland, der Geheimhaltung und den verstümmelten Informationen zum Trotz, durchaus wissen konnte und sogar tatsächlich wußte, daß Massaker bereits in den ersten Kriegsjahren stattfanden. Dabei drängt sich die Frage nach der Bedeutung von »Wissen« und »Glauben« auf, mit anderen Worten, inwieweit die grauenhaften Nachrichten in Deutschland selbst und in der übrigen Welt Glauben fanden.

      Vor allem die übrige Welt sei in der Lage gewesen, so viel zu tun, und habe dennoch so viel unterlassen, das zum Überleben der europäischen Juden hätte beitragen können.

      Bei der Lektüre von Laqueurs Buch überkam mich manchmal das Gefühl, sein eigenes Bedürfnis, den grauenhaftesten Teil des Geheimnisses, die Massenvernichtung, zu verdrängen, habe ihn zu einer milderen Analyse bewogen, als ich selbst und andere für gerechtfertigt halten.

      Nach Angaben der SS waren vor Ende 1942 2 500 000 Juden deportiert und umgekommen. Die meisten Opfer waren aus Polen, Rußland und den baltischen Ländern verschleppt und von Einsatzgruppen ermordet worden.

      In den Vernichtungslagern Chelmno, Belzec, Majdanek, Sobibor und Treblinka rauchten die Verbrennungsöfen unaufhörlich. Über 200 000 Juden aus Deutschland und den besetzten Gebieten waren deportiert, und weit über 2 000 000 polnische und russische Juden waren umgebracht worden.

      Trotz der Tarnsprache der Nationalsozialisten und trotz Zensur von Radio, Presse und Post, trotz abgefangener Kuriere und Telegramme wußten unzählige Menschen von den Greueltaten im Osten. Von Tausenden wurden über viele Kanäle die meist mündlichen Berichte weitergegeben. Familienmitglieder der Wehrmacht und der SS wußten aus Erzählungen und Briefen von Ehemann, Sohn und Bruder oft besser Bescheid, als sie nach dem Krieg jemals zuzugeben wagten.

      Aber auch Geistliche, Widerstandskämpfer, Schmuggler und Bahnbeamte gaben Berichte aus erster oder zweiter Hand in den Westen weiter oder verbreiteten die Schreckensnachrichten in den damals noch vorhandenen Gettos in Polen. Mit Archivmaterial aus England, aus den Vereinigten Staaten, Deutschland und Israel, aber auch durch Gespräche mit zahllosen Überlebenden gelingt es Laqueur, das Netzwerk von Informationskanälen zu rekonstruieren und überzeugend darzulegen, daß der Prozeß der Endlösung schon Ende 1942 im wesentlichen hätte bekannt sein müssen.

      Aber waren die Tatsachen auch wirklich bekannt, oder besser: Wurde den Tatsachen in den politischen Kreisen der Allierten auch Glauben geschenkt? Laqueur liefert den Beweis für die psychische Abwehrhaltung, die selbst Felix Frankfurter, ein prominenter amerikanischer Jurist und Richter am Obersten Gerichtshof, einnahm: Als Jan Karski, ein polnischer Offizier und Kurier von den Massenmorden in Europa berichtete, bekam er zu hören, Frankfurter sehe sich außerstande, das zu glauben.

      Vor Ende 1942 war kaum jemand im Westen über den vollen Umfang der Tragödie unterrichtet. Unter den wenigen waren die geflohenen polnisch-jüdischen Parlamentarier Zygielbojm und Schwarzbart, die in London die begründete Befürchtung äußerten, die Massaker des Jahres 1942 seien erst der Anfang der Katastrophe. Sie mobilisierten die englische Presse und einen kleinen Teil der öffentlichen Meinung.

      Von Verzweiflung übermannt, in dem Gefühl, die Welt lasse die Juden untergehen, ohne einen Finger zu rühren, nahm Zygielbojm sich im Mai 1943 das Leben, nachdem die SS den Aufstand im Warschauer Getto in Blut und Asche erstickt hatte. Sein bewegender Abschiedsbrief erschien in der Presse, löste aber nur zurückhaltende Reaktionen aus.

      Die Katastrophenmeldungen aus dem Osten wurden überwiegend von Gerhard Riegner, einem jungen deutsch-jüdischen Juristen aus Berlin, und von seinem um dreißig Jahre älteren Kollegen Richard Lichtheim durchgegeben, beide Vertreter der Jewish Agency in Genf. Über Informanten, zu denen ebenso Industrielle und Journalisten wie Kuriere und Schmuggler zählten, liefen bei ihnen die Schreckensmeldungen ein, die sie weiterzuleiten suchten zu Staatsoberhäuptern und Ministern, oft mit Hilfe von Vermittlern wie dem Oberrabbiner Stephen Wise oder Richter Frankfurter. Ihre Aufgabe muß eine entsetzliche Last gewesen sein, denn in Whitehall und im Weißen Haus waren die Herzen und Ohren aus Granit.

      Natürlich war die Botschaft unerträglich und deshalb unglaubwürdig; aber war das der einzige Grund für die Kleingläubigkeit, die Abwehr und den Skeptizismus von Roosevelt, Eden und ihren Beamten und Diplomaten?

      Laqueur gibt sich in seiner Analyse milder und toleranter als Gilbert und Wasserstein, aber sein Langmut geht mir denn doch zu weit. Daß die Regierungskreise und die Medien in England und in den Vereinigten Staaten in den ersten Kriegsjahren auf die blutigen Nachrichten mit einer gewissen Zurückhaltung reagierten, ist nicht unverständlich. Das Argument von der schwierigen Verifizierbarkeit und den mangelhaft arbeitenden Nachrichtendiensten ist möglicherweise stichhaltig, obwohl abzuwarten ist, was aus den bislang verschlossenen Archiven der Alliierten zutage treten wird. Aber das damit verbundene Argument, die Alliierten hätten nicht in den Fehler der Greuelpropaganda verfallen wollen wie im Ersten Weltkrieg, als außer den Sensationsblättern auch Schriftsteller wie Arnold Toynbee und John Buchan über die Barbarei der Deutschen während des Einfalls in Belgien im August 1914 schrieben, scheint mir weit hergeholt. Wird die Naivität der Alliierten auf diese Weise nicht allzu leicht entschuldigt?

      Ganz abgesehen von der Invasion im Jahre 1914 in Belgien, die vielleicht nicht ganz so barbarisch war wie die englische Sensationspresse damals behauptete, war die Periode, die Laqueur beschreibt, »quite a different cup of blood«.

      In Whitehall und Washington kannte man ja die Pläne der Nationalsozialisten: Mein Kampf war seit fünfzehn Jahren auf dem Markt, die Gespräche mit Hitler seit zehn Jahren. Der Einfall in die Tschechoslowakei und Polen, die Kristallnacht und die Euthanasie-Aktion waren noch frisch in Erinnerung. Die Konzentrationslager im Reich waren bereits berüchtigt, die Totenkopfdivision von Eicke und die Einsatzgruppen hatten schon rund zwei Millionen


Скачать книгу