Tetralogie des Erinnerns. Gerhard L. Durlacher

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Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher


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lange, langweilige Sitzung.

      Nachdem der Kellner die Gläser gefüllt hat, hebt Onkel Edward feierlich das seine und spricht mit feuchten Augen von Freiheit und Wiedersehen, von seinen Schwestern und Brüdern, von Verdun und »les Boches«, die Frankreich schon Mores lehren wird.

      Vetter Rolf ist sparsam mit Worten. Erst nach der langen Mahlzeit, als Zigarrenrauch und Schlaf mir in den Augen brennen, höre ich von weitem, wie Vater ihn bittet, etwas für uns nach Holland zu bringen.

      Sehr bald nach diesen Worten, am späten Nachmittag, kehren wir zurück in das Land, das uns haßt.

      Senta ist tot, Senta ist tot, Senta ist tot. Im Takt meines Herzklopfens weine ich die Worte in mein Kissen. Ich bin untröstlich, obwohl mir die Eltern im neuen Land einen neuen Hund versprochen haben. Senta war krank, Senta war krank, Senta war ...

      Mit ihren lieben großen Hundeaugen hat sie mich heute morgen noch angesehen, die Ohren wachsam aufgestellt, den Schwanz wie ein Pendel schwenkend.

      »Sie kann nicht mit.« »Sie ist krank.« »Man läßt sie nicht ins Land hinein ...« Nichts davon will ich heute hören, nichts.

      Ich begrabe meinen Kummer in ihrem schwarzen Fell.

      Schweifwedelnd geht sie mit Vater, krank aber froh.

      Ohne sie kommt er zurück. Sogar ohne Halsband!

      Ich stehle ihr ovales Porträt aus dem Fotoalbum und verstekke es als meinen kostbarsten Schatz.

      Drei baumlange Männer trampeln über den Dielenboden unserer Wohnung. Die Teppiche haben sie aufgerollt. Tische, Stühle und Polstersessel stehen nebeneinander und aufeinander an den Wänden. In schmuddelig-braunen Arbeitsschürzen, die Ärmel hochgekrempelt, packen die Männer in fliegender Eile Geschirr, Bücher und alles, was herumliegt oder herumsteht in Zeitungspapier. Mit großen, von Druckerschwärze und Staub fleckigen Händen legen sie jedes Stück sanft und doch fest in Umzugskisten aus rohem Holz. In unverständlichem Holländisch rufen sie in dem laut widerhallenden Zimmer einander etwas zu, machen Späße und lachen schallend. Neugierig betrachte ich die flinken Finger und die muskulösen, geäderten Arme, auf denen die blauen Tätowierungen von Frauen und Herzen mich abstoßen und zugleich fesseln.

      Mutter will helfen, doch die Stücke, die sie heranträgt, werden ihr aus den Händen gerissen und verschwinden, in Zeitungen gewickelt, unerkennbar zwischen dem anderen Hausrat.

      Sie ermahnt mich, nicht im Weg zu stehen und die Männer nicht von der Arbeit abzuhalten, aber einer sagt gutmütig im drolligen Deutsch meiner holländischen Tante, daß ich sie nicht störe.

      Gereizt stampft Vater durch das Haus, gibt Anweisungen, die von den Umzugsleuten selten befolgt werden, da sie nicht verstehen können oder wollen, was er sagt.

      Mutter und mir gegenüber wird er ausfällig, aber nie so laut, daß die Männer es hören. Ängstlich besorgt vor Kratzern und Flecken auf den Möbeln und dem Flügel, seinem besonderen Hätschelkind. Mit Schweißperlen auf den roten Gesichtern, die Gurte wie Taue um Nacken und Schultern gespannt, Anweisungen zischend, keuchend und stöhnend schleppen die Riesen das schwere Ungetüm über Korridore und Treppen zum Möbelwagen auf dem Gehsteig. Oben meine Eltern, blaß und ruhig.

      Unten, neben den mit Jute überzogen Ladeklappen, steht in all den Stunden ein Deutscher mit grünem Tirolerhut und Feder, eine schwarzlederne Aktentasche vor den Füßen, eine Stange Kreide in der Hand. Auf jedes verladene Stück macht er ein Zeichen und schreibt es auf in seinem Buch.

      Zu den Eltern und zu den Männern sagt er kein Wort und runzelt nur die Brauen, wenn diese ihre Späße treiben.

      Argwöhnisch kontrolliert er das Verriegeln der Türen und versiegelt die Schlösser mit Blei.

      Kahl und leer ist die Wohnung. Die weiße Tür, hinter der Senta das Haus bewacht hat, fällt hinter uns ins Schloß. Das Klicken hallt scharf durch das Treppenhaus. Keiner hört es, niemand kommt heraus, um uns nachzuwinken.

      Mein Zuhause fort, mein Zimmer fort, mein Hund fort, mein Spielzeug fort, fort, fort, alles fort. Kein Harro mehr, keine Schule mehr, sogar mein Bär ist fort. Alles, was mir geblieben ist, liegt in einem Koffer neben mir auf dem Rücksitz, wo eigentlich Oma hätte sitzen sollen.

      Sie ist mit der Bahn vorausgefahren, geradewegs nach Rotterdam. In dem Abteil, in dem sie saß, als führe sie zur Schlachtbank, jammernd, daß sie die Reise nicht überleben werde, verschwand sie aus meinen Augen.

      Dörfer und Städte gleiten vorbei. Ein Kilometerstein folgt auf den anderen. Wenn Hunger, Durst oder andere Bedürfnisse meinen Vater zum Halten zwingen, beginnt die Suche nach einem Gasthaus, wo nicht »Juden unerwünscht« auf den Türen steht. Sehr oft setzen wir die Reise fort, ohne einen Zufluchtsort gefunden zu haben, und fahren weiter bis zu einem Platz, wo wir die unterwegs gekauften Lebensmittel auf einer Bank oder im Gras sitzend essen können. Es ist wie ein Picknick, aber lustig ist es nicht.

      Durch Wälder und über Hügel brummt Vaters Adler. Eintönig verschlingt er das Band aus Asphalt und Kopfstein, bis die Dunkelheit einbricht.

      Wir sind müde, sehr müde, als ein Wegweiser Mönchengladbach anzeigt.

      Von Hotel zu Hotel zu Hotel; wie Bettler vor den Türen abgewiesen. Zuletzt eine Pension von Juden für Juden.

      Der Schlaf will nicht kommen, ich habe keine Tränen mehr.

      Vorhänge flattern leise im Wind. Durch das Fenster scheinen die Sterne der letzten Nacht in meinem Geburtsland.

      »WIR HABEN NICHTS GEWUSST«

      Nachschrift

      Offenburg, Appenweier, Achern; Namen auf Schildern an den Landstraßen, undeutliche Echos aus meiner Kindheit.

      Aus den blaugrünen, dunstig verregneten Wäldern des Schwarzwaldes fahren wir in die Rheinebene. Wir kommen aus der Schweiz und nehmen auf dem Rückweg in die Niederlande die Route über mein Herkunftsland.

      Beim Überschreiten der Grenze fühle ich die Reste fünfzig Jahre alter Angst, nicht durchgelassen zu werden, und dann den prickelnden Triumph beim Handzeichen des Beamten, der uns in sein Land fahren läßt, ohne auch nur den Paß zu kontrollieren.

      Mein kleiner roter Citroen mit niederländischem Nummernschild, meine Frau neben mir und meine schlafende jüngste Tochter auf dem Rücksitz erwecken das Vertrauen der Grenzposten an allen Übergängen. Ich bin kein unerwünschter Flüchtling mehr, sondern ein Tourist, der seine Devisen ausgeben will.

      Ein Punkt auf der Landkarte, fast unauffindbar, ist Freistett am Rhein in der seit Jahrhunderten umstrittenen Tiefebene, die trotzdem von allen Machthabern vergessen wurde.

      Darf ich die Heimreise nach den sonnigen Ferien am Genfer See durch eine Fahrt stören, die fünfzig Jahre alte Gespenster wachruft? Der Ortsname Freistett zieht mich magisch an, zieht das Kind von damals an, das auf dem Rücksitz des blauen Adlers seine Verwandten in einem hochgewirbelten Staubschleier aus seinem Leben verschwinden sah.

      Auf ruhigen geraden Straßen, durch kleine Dörfer lenke ich den Wagen in der beinahe holländischen Landschaft. Ich fahre wortlos wie damals mein Vater fuhr. Ich sehe, was er sah, was ich sah. Einen Augenblick lang bin ich er.

      An der Kreuzung verfehle ich die Abzweigung. Will ich wirklich sehen und hören? Nach rechts: das retuschierte Foto meiner Erinnerung, zweihundert Meter vor uns. Sand und Staub sind jetzt Asphalt. Die Schmalspurbahn ist verschwunden. Gehsteige an beiden Seiten, neu und sauber. Häuserfassaden: rosa, grün und gelb; moderne Geschäftsfronten: ein vollkommenes Potemkinsches Dorf.

      Und doch noch dasselbe: die Haustür links, die Stalltür rechts, die überhängenden Dachgesimse, die flachen roten oder schwarzen Ziegel.

      Ich suche das Haus. Erkenne es und kenne es nicht wieder. Ein Laden für Papier, Zigarren, Zeitungen. Die städtisch aussehende Verkäuferin weiß von nichts. Wem das Haus gehört hat, wer darin gewohnt hat, damals und später? Der Chef, jünger als meine Erinnerung alt ist, verweist mich an eine ältere


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