Tetralogie des Erinnerns. Gerhard L. Durlacher

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Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher


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Es ist kein Berg mehr, nur noch ein Hügel, und ich stehe da als Angeklagter. Erst nach einem heiligen Eid glaubt mir Mutter. Ihr Kreuzverhör erstreckt sich auch auf Vater. Er weiß von nichts und regt sich auf. Oma ist über jeden Verdacht erhaben. So bleibt nur Lena als Verdächtige übrig, aber sie kommt erst wieder am Montag morgen.

      Aus der Waschküche im Keller dringt der Lärm eines schrillen, heftigen Streites durch das hallende Treppenhaus bis in unsere Wohnung, und ohne die Worte zu verstehen, weiß ich, worum es geht. Blaß und verstört, mit rotumrandeten Augen, stürzt Mutter ins Zimmer und stolpert atemlos über die eigenen Worte: Lena hat den Kuchen gestohlen, schlimmer: Lena stiehlt von Anfang an aus der Speisekammer. Aber das Schlimmste: Lena schimpft und höhnt, sie habe ein Recht darauf, sie werde ausgebeutet und bekomme viel zu wenig zu essen, die Juden würden die »Volksgemeinschaft« betrügen und sie werde uns die »Partei« auf den Hals hetzen, um uns ein für allemal Mores zu lehren.

      Kuchen, Konserven, Wurst und Käse haben schlagartig ihre Bedeutung verloren. Der Ärger wird zur Angst, und in der Vorstellung sehe ich schon die Braunhemden mit Fackeln und Knüppeln vor der Tür stehen. Ratlos überlegen die Eltern miteinander, mit Freunden und Bekannten. Den ganzen Tag über rasselt die Wählscheibe des Telefons und atemlos spricht Mutter in den Hörer. Abends klingelt sie bei den Nachbarn an, oben, links und rechts.

      Erschöpft und aufgeregt gibt sie mir einen Gutenachtkuß. Die Neugier schwelt in mir, als ich einschlafe, den tröstenden Kissenzipfel in den Armen.

      Unwirsch und mit verkniffenem Mund tobt Lena morgens durch die Wohnung. Vor ihrer Wut klirrt das Geschirr in der Küche, wir sind für sie Luft. Sie tritt heftiger gegen Stuhl- und Tischbeine, als ich es im schlimmsten Jähzorn je gewagt habe, und als das dumpfe Knallen des Teppichklopfers vom Hof herauf tönt, tun mir die Teppiche leid.

      Mutter kocht das Mittagessen. Ihre Wangen sind erhitzt, als wäre es glühend heiß in der Küche, und bei jedem Schlag und Knall im Haus oder von draußen zuckt sie zusammen.

      Schweigend helfe ich ihr beim Tischdecken. Als die Suppe in der Terrine auf dem Tisch dampft, ruft sie Lena zum Essen.

      Leise schließt Mutter die Küchentür und überläßt die Suppe schlürfende Lena, die weder auf noch um sich schaut, sich selbst. Wir essen wortlos unsere Suppe und ich verstehe nicht, was die erwartungsvolle Stille zu bedeuten hat.

      Als die Türklingel läutet, springt Mutter auf, als hätte sie auf einer Feder gesessen, läuft zur Wohnungstür und kommt gleich darauf mit den Damen zurück, die geheimnisvoll leise gehen und flüstern, allen voran Frau Huber, unsere immer lachende, mollige Nachbarin von oben, im grünen Dirndlkleid, aus dem ihr üppiger Busen mit dem goldenen Kreuzchen darauf quillt.

      Teils im Zimmer, teils im Gang warten alle auf den Augenblick, in dem Frau Huber die Küchentür aufreißt. Lena würdigt sie keines Blickes. Den linken Arm hat sie um den Teller gelegt, als müßte sie ihn gegen Diebe verteidigen. In ihrer rechten Hand die Gabel, mit der sie, ohne den Arm anzuheben, den Berg aus Sauerkraut, Kartoffeln und Fleisch mit großen Bissen in den Mund schaufelt.

      Als die Nachbarin und die anderen Frauen in der Küche stehen, blickt Lena unwirsch vom Essen auf. Frau Hubers lachend gesprochene Worte: »Aber Lena, ich glaubte, man lasse dich hier verhungern« bringen die Gabel zum Stillstand. Eine Donnerwolke zieht über ihr Gesicht, der Mund ist ein verkniffener Spalt. Böse erhebt sie sich, umklammert die Gabel mit der Faust und sticht sie wie eine Heugabel mit Schwung ins Sauerkraut. Drohend schaut sie sich um, stößt Flüche aus, die ich noch nie gehört habe, reißt die braune Schürze vom Haken und ohne sie in den geflochtenen Koffer zu stecken, drängt sie uns in der Küchentür beiseite. Mit einem donnernden Schlag wirft sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloß. Im leeren Treppenhaus hallt ihr Fluch wider: »Juda verrecke!«

      Bleich, mit Gesichtern, auf denen die Fröhlichkeit erloschen ist, gehen die Frauen hinaus. Mutters geflüsterte Worte des Dankes bleiben in der Luft hängen.

      SCHULZEIT

      Im Korridorspiegel erkenne ich mich kaum wieder. Das Weinen steht mir näher als das Lachen. Nur oben am Kopf sind noch Haare, aber darunter hat der Friseur mit seiner Haarschneidemaschine ein Stachelschwein aus mir gemacht. »Für die Schule muß es kurz und schneidig sein«, hatte er zu meiner Mutter gesagt. Bevor sie sich’s überlegen konnte, hatte er, ohne weitere Worte zu verschwenden, mir einen deutschen Schopf geschnitten. Auf den weißen Frisierumhang fallen braune Strähnen wie Herbstblätter und ich schließe die tränennassen Augen, um meine Verwandlung nicht ansehen zu müssen.

      Auf dem Heimweg spüre ich den kalten Wind auf der nackten Kopfhaut und es scheint, als sei mir die Mütze auf einmal zu groß geworden. Harro, der Nachbarsjunge, Sohn des Chefmonteurs der Opel-Garage, in der Vaters Auto steht, kommt auf seinem fliegenden Holländer zu uns herangebraust. Auch er hat einen frischgeschnittenen Stachelkopf und ich bilde mir ein, daß er über meine viel zu große Mütze lacht, obwohl er sonst sehr nett ist. Ich zerre an Mutters Hand, um so rasch wie möglich im Treppenhaus vor fremden Blicken sicher zu sein und beruhige mich erst, als die Haustür ins Schloß fallt.

      Mit einer knisternden, in braunes Packpapier gewickelten Überraschung lockt sie mich vom Korridorspiegel fort. Auf dem großen Eßzimmertisch liegt das graue Leinentischtuch, das Großmutter monatelang mit Blumen bestickt hat, angespannt murmelnd, die bebrillte Nase bei jedem Stich dicht am Tuch. Schrill ruft sie aus ihrem Sessel, das neue Tischtuch müsse erst zusammengefaltet werden, bevor ich die Schnüre des Pakets aufknüpfen darf. Durch das Papier hindurch dringt der aufregende Geruch frisch gegerbten Leders, und mit ungeduldigen Fingern entferne ich die braune Umhüllung von dem schönsten Schulranzen, den ich jemals angefaßt habe.

      Sprachlos streichle ich das wunderbare, genarbte Leder, verfolge mit dem Zeigefinger die glatten, reckteckigen Bahnen auf der Klappe und stecke den Kopf in die Tasche hinein, um den würzigen Geruch tief einzusaugen. Auf dem Boden liegt ein langer hölzerner Federkasten. Erst nach vielem Probieren und Fummeln gelingt es mir, den geheimnisvollen Verschluß zu öffnen. Niemand im Zimmer kommt auf den Gedanken, daß man den Schiebedeckel zuerst halb herausziehen muß.

      Glatt und schwer liegt der Kasten in meiner Hand, ein gefährliches Stück Holz. Farbstifte und ein Federhalter klappern in den Fächern. Einzelne Federn mit einer kleinen Kugel an der Spitze, ein Stück Sämischleder und ein wunderbar weicher grüner Radiergummi liegen in ihrem Geheimversteck verborgen.

      Die ledernen Schulterriemen meines Ranzens sind steif und hart. Es kostet mich Mühe, den Haken des rechten Riemens ohne Hilfe in den Eisenring an der Unterseite einzuhängen, aber nach einigen vergeblichen Versuchen klappt es. Stolz laufe ich mit meiner neuen Schulausrüstung aus dem Zimmer zum Korridorspiegel und betrachte mich mit anderen, neuen Augen.

      An dem Schulgebäude aus grauen, glitzernden Steinblöcken bin ich oft mit den Eltern oder an Marias Hand vorbeigekommen auf dem Weg zu meinem Freund Walter, dem Sohn des dicken Rabbiners, oder gelegentlich an Sonntagen, wenn wir uns von der seufzenden kleinen Bergbahn auf den Gipfel des Merkurs tragen ließen.

      Auf den grauen Granitstufen, die vom Gehsteig zur breiten Terrasse hinaufführen, hinter der steinernen Balustrade und vor dem Bogen des dunkel drohenden Schuleingangs stehen viele Mütter mit Jungen, ebenso groß oder größer als ich, mit kurzgeschnittenem Haar; einige mit Ranzen aus Leder oder Leinwand, andere mit Leinenbeuteln oder Bündeln, die mit einer Schnur umwickelt sind. In den Armen halten sie große spitze Tüten aus bunter Seide, aus Karton oder braunem Papier, voll mit buntverpackten sauren Bonbons, Ostereiern und Zukkerwerk. Sie rufen einander zu, prahlen mit ihren Osterschätzen und tauschen Süßigkeiten aus.

      Einige Mütter schwatzen laut miteinander, während ihre Söhne über der Balustrade hängen und die Sonntagskleider schmutzig machen.

      Walter und ich stehen ohne Schultüten auf dem Gehsteig gegenüber der Schule. Unsere Mütter flüstern kaum hörbar, wir beschnüffeln unsere neuen Schulranzen. Seine abstehenden Ohren werden rot, als er nach dem österlichen Zuckerwerk schaut, und auch ich verspüre nagenden Neid.

      Mit schmetternden Stimmen kommandieren die Lehrer die Jungen in Dreierreihen, und an der Hand unserer


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