Tetralogie des Erinnerns. Gerhard L. Durlacher

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Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher


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und vor uns sehe ich, was ich bislang nur geahnt habe.

      Durch die Menge der Zuschauer drängen wir uns nach vorn. Einige sehen uns stirnrunzelnd an, andere gelassen oder verstört. Aber es sind auch manche dabei, die grinsen, als bereitete ihnen das Schauspiel großes Vergnügen. Herr Kindler vom Bekleidungsgeschäft um die Ecke ist unter ihnen. Mit gespreizten Beinen, die Hände in die Hüften gestemmt, steht er in der ersten Reihe und auf seiner Lederjacke glänzt das rote Abzeichen mit dem Hakenkreuz.

      An beiden Seiten der Eingangstür stehen stämmige Männer in brauner Uniform, den Revolver am Koppel mit dem Schulterriemen, die Beine in glänzenden schwarzen Stiefeln, unbeweglich wie Statuen. Neben ihnen, an Stöcken befestigt, große Schilder mit Wörtern, die ich nicht lesen kann und trotzdem verstehe. Hochgeschossene Jungen, ein gutes Stück größer als ich, rufen die Parolen aus, ältere Leute in muffigen, abgetragenen Kleidern murmeln zustimmend oder kopfschüttelnd. »Kauft nicht bei Juden, sie sind euer Unglück« und »Die Juden verderben das Volk, Deutsche wehrt euch«. Die großen Schaufensterscheiben sind verschmiert mit Davidssternen aus tropfendem Kalk, der in langen weißen Schlieren von den Ecken herunterläuft und die schöne neue Fassade aus schwarzem Marmor verdirbt.

      Der Chefmonteur der Garage, in der Vaters Auto steht, ein großer, breitschultriger Mann mit braunen Haaren und schmutzigen Händen, drängt sich neben uns nach vorn. Zwischen den Braunhemden hindurch versucht er die Ladentür zu erreichen, aber der eine streckt den Arm vor und hält ihn zurück. Er brüllt ihn an: »Kannst du nicht lesen, du blöder Judenfreund? Dir wird man ja noch vieles beibringen müssen!« Keine Stimme erhebt sich zu seiner Verteidigung, niemand protestiert.

      Ohne ein Wort zu sagen geht er fort mit hängenden Schultern, den Rücken gebeugt.

      Mutter wagt sich keinen Schritt mehr vor. Aber der andere SA-Mann hat uns erkannt und sagt mit einer Geste spöttischer Dienstbeflissenheit: »Gehen Sie nur rein, gnädige Frau, wir verhelfen Ihnen bald zur Pleite.« Und Maria lächelt er tückisch an: »Dir werden wir schon helfen.«

      Dutzende Blicke verfolgen uns mit kühler, spöttischer Gleichgültigkeit oder wenden sich ab, als wir mit klopfendem Herzen und bleiernen Füßen die weißverschmierte Ladentür erreichen. Herr Kindler grüßt uns mit einem gemeinen Grinsen und mir wird schlecht vor Angst.

      Der Ausstellungsraum ist kalt und verlassen. Hinter den Linoleumrollen im Büro brennt Licht.

      Onkel und Tante sitzen da in ihren Sabbatkleidern. Vater herrscht Mutter böse an, sie hätte nicht herkommen dürfen. Sie bricht in Tränen aus; Gersbach versucht sie zu trösten und zu ermutigen, sagt, alles sei nur halb so schlimm, und ich glaube ihm aufs Wort.

      Vom Schluchzen gestoßen erzählt Mutter, was draußen vor der Tür passiert ist. Die Augen meiner Tante sehen wütend durch die dicken Brillengläser. Offenbar ist es ein Fluch, den sie auf Holländisch zischt, und in ihrem guten Kleid verschwindet sie im Waschraum. Mit Schürze und Eimer, Scheuertuch und Schwamm geht sie, ohne ein Wort zu uns zu sagen, mit großen Schritten an den Polstersesseln und Betten vorbei zum Ausgang und stößt die Ladentür auf. Mit überschlagender Stimme ruft Onkel Benno ihr befehlend und weinerlich nach: »Komm zurück, Jet, das kann man hier nicht machen«, aber sie geht unbeirrt weiter.

      Mit nassem Tuch und Schwamm wäscht sie die schmutzigen Scheiben ab, angestarrt von den stummen, kuhäugig glotzenden Zuschauern.

      Ein Braunhemd schreit sie an, versucht, ihren Eimer umzustoßen. Sie schaut ihm gerade in die Augen und läßt ein donnerndes Gewitter niederländischer Wörter über ihn herabprasseln.

      Er starrt sie verständnislos an und weiß nicht, wie ihm geschieht, als sie plötzlich die Sprache wechselt und auf Deutsch losschimpft, daß sie »den Botschafter der Niederlande benachrichtigen wird.«

      Die Zuschauer trollen sich davon, als machte ihnen das Schauspiel keinen Spaß mehr. Nur ein paar schlaksige Jungen lungern noch herum.

      Im Waschraum, wo sie den Eimer mit sauberem Wasser vollaufen läßt und sich die weiße Schmiere von den Händen wäscht, nickt Tante zufrieden und selbstbewußt: »So macht man das in Holland.«

      DER ERTRINKENDE

      Immer wenn mein bewegliches, rotbraunes Holzkämmerchen voller Spiegel ein Stockwerk passiert und an einer Gittertür vorbeigleitet, macht das Schmiedewerk des Fahrzeugs einen lauten Klick. Auf und ab fahre ich, vom Keller zum Dachboden, und zu meinem Glück fehlt nur noch die vielknöpfige rote Livree und die flache Mütze des echten Liftboys. Ich bediene die Knöpfe, wie ich es ihn in dem anderen Aufzug des Hotels habe tun sehen, und verschwunden ist die grimmige Langeweile, die mich am Tisch der Eltern und ihrer Bekannten geplagt hat. Niemand sprach dort mit mir und das, was ich aufschnappte, rief die vergessenen Ängste wieder wach, die mich vor einem Jahr überfallen hatten, als Männer in braunen Hemden und mit roten Hakenkreuzbinden die Schaufensterscheiben unseres Geschäftes beschmierten. Die geflüsterten Namen und Schimpfwörter kamen mir bekannt vor, aber der Sinn des Gesprächs blieb im Dunkeln; sogar meine Mutter nahm mit roten Wangen daran teil und vergaß, daß ich dabeisaß. Niemand hielt mich zurück, als ich den großen, hohen Saal verließ, wo aus den schwatzenden Mündern der vielen Erwachsenen die Rauchschwaden wie Schlechtwetterwolken zur Decke stiegen, und Oberkellner mit flatternden Frackschwänzen Tabletts voll Kaffeetassen und Gläser mit grünen, roten und gelben Getränken auf der Hand tanzen ließen, ohne etwas zu verschütten.

      An der großen, glatten, glänzenden Theke, hinter der sich Hunderte von numerierten Fächern mit Briefen, Zeitungen und Schlüsseln befinden, komme ich nicht unbemerkt vorbei. Der kahle dicke Mann in moosgrüner Uniform, der mir gleich bei unserer Ankunft die Hand gab und nach meinem Namen fragte, sagt in seinem drolligen Deutsch, daß ich mich nicht verirren soll.

      Langsam schlendere ich durch die langen Korridore und betrachte die Bilder mit Hirschen, Hunden und Vögeln an den Wänden. In einem langen, unbekannten Gang, dessen Läufer schon ein wenig verschlissen aussieht, entdecke ich einen Lift mit einem genauso verschnörkelten Gitterwerk wie in dem Gang, wo unser Zimmer liegt. Dort durfte ich weder die Knöpfe drücken noch die beiden Türen schließen. Mutter fürchtete, ich könnte mir die Finger einklemmen, obwohl ich zu Hause mit unserem Aufzug sehr gut umgehen kann.

      Die rumpelnde Fahrt vom Keller zum Dachboden und vom Dachboden in den Keller fesselt meine Aufmerksamkeit nicht lange, und als ich auf einen Knopf drücke um anzuhalten, bleibt mein Käfig zwischen zwei Stockwerken hängen. Weder das Zerren an der Innentür noch die Fingerübungen auf den Knöpfen setzen das Fahrzeug wieder in Bewegung. Was zunächst so lustig aussah, ist jetzt bedrohlich geworden. Ich fühle mich wie ein Gefangener und aus den Spiegeln sieht mich ein ängstliches Gesicht mit großen Augen an.

      Wie eine Schlange beschleicht mich die Furcht, hier jämmerlich und einsam sterben zu müssen, denn trotz der Hilferufe und gellenden Schreie kommt niemand, um mich zu erlösen.

      Ich schrecke hoch, als der Käfig metallisch zu rasseln beginnt. Über mir sehe ich die Schuhe und Beine meiner Eltern und die grünen Hosenbeine des Oberportiers. Meine Hose ist kalt und naß. Die Scham ist größer als die Angst vor Strafe, als die Eltern mich an den neugierigen Erwachsenen vorbei auf unser Zimmer bringen.

      Am späten Morgen des nächsten Tages, als sich der hellblaue Nebel über den Weingärten verzieht, erkunden wir das Schwimmbad von Meran mit den langen Reihen von rosafarbenen Kabinen, den bunten Liegestühlen, den kleinen und grossen, tiefen und flachen Becken und dem Kinderspielplatz, der mich wie ein Magnet anzieht.

      Nirgends steht ein Schild wie zu Hause, das den Juden den Zutritt verbietet, trotzdem stammelt Mutter verlegen, als sie vor dem Mann an der Kasse steht.

      Drinnen entdecken meine Eltern rasch Freunde aus dem hohen Hotelsaal, und die Gespräche werden fortgesetzt, als wären sie über Nacht nicht unterbrochen worden.

      Der singende Ruf des Eisverkäufers: »Gelati, Gelati«, übertönt das aufgeregte Geplapper und weckt mich aus meinen Tagträumen auf dem Spielplatz.

      Auf dem Rücksitz unseres dunkelblauen Adlers, Vaters makelloser Stolz, schaue ich schläfrig in die vorüberziehende gebirgige


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