Tetralogie des Erinnerns. Gerhard L. Durlacher

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Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher


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stehen, und zu dem Stückchen Mohnbrot mit Salz und einem Schluck Wein aus dem alten verbeulten Silberbecher muß ich unverständliche hebräische Wörter nachsprechen.

      Nach der Hühnersuppe bringt Mutter eine Schüssel mit einem großen Karpfen in braunem, manchmal grünem Gelee aus der Küche. Ich mag das Gericht nicht, aber aus Höflichkeit gegenüber Großmutter, die stolz auf ihr Werk ist, muß ich davon kosten.

      Onkel Jacob, Omas Lieblingsbruder, der Sabbatgast an unserem Tisch, ißt manchmal einen halben Fisch. Er ist arm und klagt ständig über Rheumatismus und zu wenig Geld. Manchmal spricht er das Dankgebet und zieht es solange hin, bis die Eltern und ich vor Langeweile gähnen.

      Wenn er unruhig und gehetzt meinem Vater überläßt, den Tisch aufzuheben, und nervös den Deckel seiner dicken Taschenuhr auf- und zuklappt, weiß ich nur zu gut, was nach dem Essen kommt. Das Zauberwort Bayreuth erlegt allen Schweigen auf. Onkel Jacob und Vater schleppen schwere Sessel vor den Radioschrank, auf dem das neue Blaupunkt-Superhet-Gerät steht und alsbald dröhnen die Walküren, die Meistersinger oder Elsa von Brabant durchs Eßzimmer. Mit einer Hand hinter der Ohrmuschel, um keinen Ton zu versäumen, sitzt Onkel dicht vor dem Lautsprecher, und die Geräusche beim Abräumen des Tisches, beim Öffnen einer Tür oder ein geflüstertes Wort zischt er wütend nieder. Wagner, die Bronzeplakette auf dem Flügel, ist unser Hausgott.

      Einige Tage, nachdem mein Vater eine Geschäftsreise angetreten hat, wird Großmutter bettlägerig.

      Doktor Roos, der alte Hausarzt mit einem Kopf wie ein glänzendes Osterei, einer goldenen Brille auf der Nase und großen roten Händen, mit denen er mir einmal wehgetan hat, als er sie mir in seinem Sprechzimmer auf den Bauch drückte, bleibt sehr lang bei ihr. Als er fortgeht, kneift er mich fest in die Wange und sagt, daß ich Oma nicht stören darf.

      Meine Hoffnung auf gemütliche Tage mit Mutter schwindet, als ich merke, daß Großmutter sie ständig benötigt. Bald möchte sie hoch aufgerichtet sitzen, bald flach liegen, oder sie will Wasser, Suppe oder Kaffee aus einer Schnabeltasse, und die klappernde weiße Bettschüssel muß dauernd gebracht oder hinausgetragen werden.

      Ich helfe beim Abstauben, bekomme aber böse Worte gesagt, wenn ich etwas falsch mache. Mutter ist traurig und bekümmert, ich fühle mich hilflos und bin widerspenstig.

      In ihrem rosa Bettjäckchen thront Großmutter in den dicken Daunenkissen, die vor dem geflammten, hölzernen Kopfteil ihres Bettes aufgeschichtet sind. Die Haare, die Mutter morgens kämmt und bürstet, hängen offen herab. Sie häkelt ein neues Bettjäckchen, als erwarte sie, noch viel Zeit im Bett verbringen zu müssen. Oft und viel höre ich sie klagen, obwohl es ihr sichtlich besser geht.

      Selten verläßt sie das Bett und streitet mit dem Doktor, als er sie zum Aufstehen ermutigt. Ich spiele wieder auf dem Teppich in ihrem Zimmer mit der Eisenbahn, dem Märklin-Baukasten und einer neuen Mickymaus, die mit den Armen schlenkert und läuft, wenn ich sie mit einem Schlüssel im Rücken aufziehe. Hebt man sie hoch, dann trappeln die schwarzen Füßchen, sie schüttelt den Kopf und rattert schneller als die Nähmaschine. Nimmt man sie in die Hände, so ist es, als sei sie lebendig und wollte davonlaufen.

      Oma schläft unter ihrem Federbett wie Rotkäppchens Großmutter.

      Auf der Hügellandschaft ihrer Bettdecke lasse ich meine Mickymaus frei. Omas Augen öffnen sich rund vor Erstaunen, ihr gebißloser Babymund versucht etwas zu sagen, und plötzlich kräht sie wie ein heiserer Hahn, weicht zurück und schlägt wild nach meinem Spielzeugtier. Sie kreischt Mutters Namen, und in meiner Verwirrung, Angst und Bosheit packe ich das zappelnde Ding und setze es ihr auf den Kopf. Nach und nach verheddert es sich in den grauen Haarlocken, während ihr Geschrei unvermindert anhält.

      Meine Welt stürzt zusammen als Mutter die zuckende Mickymaus mit einer Schere aus dem grauen Gewirr befreien muß. Atemlos zischt Großmutter, ich sei ein »Mamser«, ein Teufel, und schwört, ich werde meiner Strafe nicht entkommen. Mutter steht das Weinen näher als das Lachen. Sie versucht zu beschwichtigen, träufelt Baldrian in ein Glas Wasser und schickt mich aus dem Zimmer.

      Verdrossen vor Kummer und Schmerz über die harte Strafe, die Vater mir verpaßt hat, hungrig und mit pochenden Schläfen liege ich abends in meinem Bett. Seine brüllende Stimme schallt aus dem Eßzimmer und Mutter weint und schreit, daß sie allein, ohne Maria, die Belastung nicht länger ertragen könne.

      Ein paar Tage später eilen wir vom Einkaufen nach Hause. Lena, Mutters neue Hilfe, soll sich heute vorstellen. Ich brenne vor Ungeduld und Neugier, sie zu sehen. Die Haustür zum Treppenhaus steht einen Spalt offen. Schon von unten höre ich Senta aufgeregt bellen.

      Über die glatten Steinstufen renne ich vor Mutter zu unserer Wohnung im ersten Stock, halte aber an, als ich durch die Lücken des Treppengeländers sehe, wie Lena mit großen schwarzen Schnürstiefeln auf den Boden stampft, um den Hund einzuschüchtern.

      Sie bemerkt uns erst, als wir neben ihr stehen. Hinter der weißen Wohnungstür mit den kleinen Scheiben taucht jetzt leise winselnd die Hundeschnauze auf.

      Noch bevor Lena uns begrüßt und sich vorstellt, zetert sie, daß wir den Hund festhalten müssen, wenn wir die Tür öffnen.

      Nervös steckt Mutter den Schlüssel ins Schloß und schickt Senta mit strengen Worten zu ihrem Korb. Mißtrauisch und wachsam beobachtet sie von dort aus unsere neue Hilfskraft.

      Als ich Lenas große lila Hand schütteln muß, fühle ich tiefe Verbundenheit mit meinem Hund. Die große, derbe Frau mit der spitzen Nase und den hellen Augen ist mir unheimlich. Das graubraune Haar ist mit Haarnadeln zu einem dicken Knoten im Nacken aufgesteckt, und ich kann die Augen von den Haaren auf ihrem Kinn kaum abwenden. Wie ich spüre, ist auch Mutter erschrocken und läßt zu, daß Lena sofort zu arbeiten beginnt. Sie holt eine große braune Schürze aus ihrem geflochtenen Koffer hervor und nach wenigen Worten wischt und bohnert sie, als sei es ihr Haus.

      Mutter kocht, sie läßt sich nicht vom Herd verdrängen. Als wir um den Tisch sitzen, murmelt Vater leise, er sei froh, daß »das Mensch« lieber allein in der Küche ißt. Von nun an wird in unserem Haus viel geflüstert, denn Lena horcht an den Türen. Ich kann kaum glauben, daß Erwachsene so etwas tun, bis ich mit eigenen Augen sehe, wie sie im Flur davonrennt, als Vater mit einem Ruck die Tür öffnet.

      In der Küche fallen harte Worte, das Geflüster hält an. Die Woche über verläßt Großmutter selten ihr Zimmer und drückt sich dann schweigend an Lena vorbei.

      Allmählich wird Oma mir wieder gut. Auf den Stühlen an ihrem Bett oder neben der Nähmaschine, die sie zuweilen wieder schnurren läßt, schütten wir alle unser Herz bei ihr aus. Als spuke ein Drache im Haus, dem Vater als einziger Widerpart bieten kann.

      Als auf dem Markt hinter der Stiftskirche dicke Bäuerinnen mit Körben voll länglicher, blauer Zwetschgen stehen, weiß ich, daß Mutter einen Kuchen backen wird. Auf rechteckigen Backblechen legt sie entsteinte und halbierte Zwetschgen wie Dachziegel in vielen Reihen nebeneinander auf den Teig, streut Zucker und Zimt darüber und gibt dünne Sahne dazu. Sie macht das geschickt und mit großem Vergnügen.

      Der Kuchen ist noch warm und saftig, als wir die ersten Stücke kosten dürfen. Lena sieht beinahe freundlich aus, als sie sich eine doppelte Portion in den Mund stopft.

      Mit Augen, die größer sind als der Magen, bitte ich um noch ein Stück und höre von Mutter, daß wir morgen, am Freitagabend, Gäste haben. Besonders schöne Stücke ohne Kruste legt sie auf eine große Platte und stellt sie in der Speisekammer neben der Küche sorgsam beiseite.

      Schon im Gang verdüstert sich Onkel Jacobs Gesicht, als er hört, daß Mutters mollige Schwester und ihr Freund Harry, der Schauspieler mit dem Monokel, sowie Onkel Albert, ein entfernter Verwandter von Vater, heute abend zum Essen kommen. Er befürchtet und ich hoffe, daß Wagner diesmal nach dem Essen keine Chance hat.

      Vater gibt sich andächtiger als sonst und singt die Gebete wie Arien. Still warte ich an dem festlich gedeckten Tisch auf den Zwetschgenkuchen. Den Karpfen im grünen Mantel rühre ich heute nicht an, denn auch Tante läßt ihr Stück stehen.

      Mit überkippender Stimme ruft Mutter aus der Küche nach mir.


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