Tetralogie des Erinnerns. Gerhard L. Durlacher

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Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher


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Reihen in das Gebäude. Die Schüler verschwinden mit ihren Müttern und den Lehrern im dunklen Maul der Schule.

      Wir, als letzte, werden an der Eingangstür von einem großen hageren Mann mit Glatze und grauem Haarkranz erwartet. Sein Schnurrbart ähnelt einer Bürste. Auf der glänzenden Nase klemmt eine Brille mit runden Gläsern. Er verbeugt sich ungelenk vor meiner Mutter, gibt ihr die Hand und stellt sich als Oberlehrer Kreis vor. Dann, als müßte er mühsam nach Worten suchen, bittet er sie und Walters Mutter, später am Tag oder besser erst morgen in die Schule zu kommen, jetzt gäbe es Schwierigkeiten, wegen den Klassenfotos ... jüdische Kinder ... »Sie verstehen ...« Wir gehen die Treppe hinunter und verabschieden uns mit wenigen Worten. Still gehe ich neben Mutter her. In meinem Ranzen klappert der Federkasten.

      Unter all den auf uns gerichteten Augen erkenne ich nur Harros Gesicht. Wir stehen an der Klassentür, Walter und ich. Unsere Mütter reden leise mit Herrn Lehrer Kreis, während die Klasse uns betrachtet wie seltsame Fische in einem Becken. Die zwei unbesetzten Plätze liegen weit auseinander, Walter kommt nach vorn in die erste Reihe, ich etwa in die Mitte ans Fenster. Ich sehe nur ein Stück seines Hinterkopfes. Wir dürfen nicht nebeneinander sitzen.

      Harro rettet mich aus meiner Einsamkeit und fragt, ob er den Platz tauschen darf mit dem mir fremden Nachbarn, der mir einen feindseligen Blick zuwarf, als ich mich neben ihn setzen mußte. In seinen neuen Lederhosen und echten Haferlschuhen stapft er stolz zu Harros Platz, froh, daß er nichts mehr mit uns zu tun hat.

      Unsere Mütter verschwinden im Gang, ein Gefühl banger Verlassenheit macht meine Knie weich. Harro ist ein magerer Trost. Die unwirschen Stachelköpfe meiner Klassenkameraden, der hochgewachsene, grauhaarige Lehrer mit den scharfen, alles bemerkenden Augen, das Bambusstöckchen in der Ecke, die sonderbaren Buchstaben auf der Tafel, die gerade stehen und anders aussehen als die, die meine Oma mich zu Hause gelehrt hat: eine unbekannte Welt voller Gefahren.

      Die Pause, in der die Jungen Butterbrote tauschen, aber nicht mit mir. Im WC, wo wir in einer Reihe nebeneinander gegen eine schwarze Wand pinkeln müssen und nach dem Pimmel der anderen gucken, entdecke ich den Unterschied zu den Jungen anderer Religionszugehörigkeit, und sie den meinen. Danach bin ich Gehässigkeiten ausgesetzt, ein Los, das ich mit Walter teile.

      Geschichten über Strafen mit peitschenden Bambusstäben treiben wie Unwetterwolken durch die Gänge, aber Herr Kreis rührt das Stöckchen nie an. Manchmal stellt er jemand, der zu laut war oder ihn geärgert hat, zur Strafe in die Ecke, aber wirklich unfreundlich ist er nie. Allmählich fühle ich mich weniger unsicher. Er läßt nicht zu, das wir verspottet und beschimpft werden, und hält Ordnung in der Klasse.

      Die geraden dicken Buchstaben lerne ich rasch und zähle, die Zungenspitze zwischen den Lippen, Rechensummen fehlerlos zusammen. Manchmal helfe ich Harro insgeheim, muß aber in der Klassenecke dafür büßen, als Lehrer Kreis mich dabei ertappt.

      Morgens, als ich noch neben Maria durch die lange, leere Stephanienstraße mit den alten, abblätternden Hausfassaden gehe, warten wir oft auf Harro, der aus dem großen Garagentor angerannt kommt. Wir hüpfen und springen vor ihr her, mit Mühe hält sie uns zurück. Wenn wir an der Realschule vorbeigehen, geben wir ihr die Hand, denn die großen Jungen in dieser Schule mit ihren Uniformen, ledernen Koppelriemen und Hakenkreuzbinden um den Ärmeln sehen uns wie ein Rudel Wölfe drohend an.

      Wenn aus der Schmiede die kreischenden Geräusche der Drehbank oder das dumpfe Dröhnen des Ambosses zu hören ist, stecken wir die Köpfe um die Ecke durch die Tür der Werkstatt und grüßen Harros Onkel, der dort Chef ist. Mit tiefer, rollender Stimme wünscht er seinem Neffen einen guten Schultag und nickt mir zu, als gehörte ich ganz selbstverständlich dazu.

      Maria bleibt am Fuß der Steintreppe stehen, die zur Terrasse vor dem Schultor fuhrt, und winkt uns nach, wenn wir ordentlich in Dreiherreihen durch die große Tür hineindirigiert werden.

      Einige Klassenkameraden grüßen mich flüchtig, doch die meisten schauen durch mich hindurch. Die Jungen, die sich um Fritz mit den Lederhosen scharen, wenden den Kopf ab. Herr Kreis hat sie bestraft, als sie Walter und mir ein Bein gestellt und uns zu Stinkjuden erklärt haben.

      Wir klappen die Holzsitze an den quietschenden Scharnieren herunter, schieben uns in die Bank und nehmen die Hefte und Federkästen aus dem Ranzen.

      Dann taucht hinter dem kleinen Fenster in der Klassentür der Kopf unseres Lehrers auf. Die Tür ist noch nicht offen, als die ganze Klasse aufspringt und jeder sich neben die Bank stellt. Sobald er vor dem Katheder steht, heben alle Jungen außer Walter und mir den gestreckten rechten Arm und rufen einstimmig: »Heil Hitler, Herr Lehrer.«

      Er hebt nur die Hand mit der uns zugekehrten Handfläche und murmelt wie zum Dank ebenfalls Heil Hitler.

      Wochenlang hat die Klasse geübt, um das Zeremoniell wie ein Mann auszuführen. Fast unhörbar hat Herr Kreis für mich hinzugefügt, daß ich den Gruß nicht mitzumachen brauche. Die Lieder singe ich mit, wenn auch nicht aus voller Brust. Die feindseligen Wörter summe ich nur und stelle mich dumm, als verstünde ich nicht, was sie für uns bedeuten.

      In der Pause rede ich mit Harro; unsere Wege trennen sich erst vor dem Garagentor. Sein Onkel, der Schmied, ist auf dem Heimweg eine Bake der Sicherheit.

      Vater ist sehr selten daheim. Er macht weite Reisen mit großen Koffern voll Gardinenstoffen und bedruckten Tischtüchern. Seit er kein Geschäft mehr besitzt, sehe ich ihn die Woche über nicht. Die kurzen Karten, die er mit dicken Buchstaben schreibt, sagen nicht mehr, als daß es ihm gut oder mäßig geht, und in einer Art Geheimsprache teilt er Mutter mit, wie hoch sein Umsatz an diesem Tag, in dieser Woche war. Wenn er samstags oder sonntags zu Hause ist, machen wir einen Ausflug. Von dem schiefen Bergbähnchen, in dem man trotzdem gerade sitzt, wenn es vom dicken schwarzen Kabel hochgezogen wird, lassen wir uns auf den Merkur tragen, oft in Gesellschaft von Freunden meiner Eltern, die nie einen Spielkameraden für mich dabei haben. Im Café oben auf dem Gipfel langweile ich mich und darf mit Münzen, die mir Mutter gibt, ein buntbemaltes Blechei aus dem Automaten ziehen, in dem etwa hundert solcher Eier hinter Glas aufgestapelt sind. Die Spielzeuguhr, die in meinem Ei steckt, geht noch am selben Nachmittag kaputt.

      Als meine Tante mit dem Lockenhaar aus Berlin im Hotel Gretel auf dem Fremersberg wohnt, ist sonntags ein Fest. Senta, meine Schäferhündin, darf nicht mit. Tantes Barsoi ist sehr scharf und bissig, obwohl er mir gegenüber ganz zahm tut.

      Ich treibe mich in den Gängen und im Garten herum und werde in der Küche mit Torte und Eis vollgestopft, bis mir beinahe übel wird. Die dicke blonde Küchengehilfin bekommt dafür einen Verweis von Dodi, der Chefin, einer Bekannten meiner Tante und ihres Freundes. Sie nimmt mich mit auf die Terrasse, wo alle bei Kaffee und Kuchen sitzen und flüsternd über die Artikel in den Sonntagsblättern reden. Manchmal ist Vaters Stimme zu hören. Mutter zischt warnend seinen Vornamen, und gedämpft plätschert das Gespräch weiter dahin.

      Jetzt gehe ich morgens immer allein zur Schule mit Harro, der vor der Garage auf mich wartet. Marias trauriges Gesicht, ihre Hand, die mir hinter den Scheiben von Vaters Auto Abschied winkt, erscheint jeden Abend beim Einschlafen vor meinen geschlossenen Augen. Ihr Weggehen schmerzt mich noch immer und ich bete jede Nacht darum, daß sie zurückkommt.

      Mia, eine entfernte Verwandte aus Frankfurt, ist kein Ersatz für sie. Ihr molliges Gesicht ist freundlich. Mit dunklen Augen schaut sie in die Ferne, aber nicht nach mir. Ihr Zopf ist lang und dick und braun. Ich darf nicht daran ziehen. Manchmal nimmt sie mich sonntags auf einem Spaziergang mit, schneidet sogar eine Vogelpfeife aus Kirschholz für mich. Wenn sie ihrer Freundin begegnet, die auf zwei Kleinkinder aufpaßt, dann redet und redet sie immerfort, als wäre ich nicht vorhanden.

      Beim schrillen Klingeln des Telefons am Sonntagmorgen springt Vater erschrocken aus dem Bett. Ich schlafe längst nicht mehr und betrachte die großen ovalen Fotos von Mutters Eltern, die über den rotgeflammten Kopfenden hängen. Seit Vaters Mutter bei uns wohnt, steht mein Bett vor dem hohen Fußende der elterlichen Ehebetten. Ich habe genügend Gelegenheit, das Porträt meines Großvaters zu studieren. Ich habe ihn kaum gekannt, aber seine Lieder in einer fremden, weichen Sprache, seine Späße und seine hell bimmelnde goldene Uhr leben verschwommen und warm in meiner Erinnerung fort.

      Mit


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