Tetralogie des Erinnerns. Gerhard L. Durlacher

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Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher


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Eile, fast ohne Worte an. Mia soll mit mir spazierengehen, sie müssen in einer dringenden Angelegenheit zu Tante Mina, Omas jüngster Schwester.

      Es ist sonnig, aber kühl. In meiner neuen Lederhose, mit bloßen Knien, spaziere ich neben Mia zum Hügel hinter der Schule. Dort trifft sie ihre Freundin, und hinter dem Kinderwagen herlaufend reden sie pausenlos miteinander. Ich weiß nicht, was ich mit den kleinen Kindern spielen soll. Aus Langeweile reiße ich Gras und Blumen ab, blase auf den Halmen, werfe mit Kieselsteinen und spüre plötzlich ein ganz dringendes Bedürfnis. Ich schäme mich, es vor Mias Freundin offen zu bekennen und beschließe, allein nach Hause zu gehen. Zuerst gehe ich schnell, dann renne ich durch die Straßen, die am Sonntagmorgen wie ausgestorben sind, an Onkel Rudis Geschäft entlang zum Leopoldsplatz und am Kino vorbei in unsere Straße, als mir in meiner großen Not einfällt, daß niemand zu Hause ist und daß Tante Minas Wohnung um die Ecke mir Rettung verspricht. Ich hämmere an die Tür und läute, als stünde das Haus in Flammen.

      Mit großen, erschrockenen Augen öffnet Irene, Tante Minas Tochter, die Haustür, und schlägt ängstlich die Hand vor den Mund mit den Kaninchenzähnen, als ich sie beiseite dränge und zum WC stürze.

      Im Gang höre ich ein Durcheinander aufgeregter Stimmen, Mutter will zu mir herein und hören, was mit mir los ist. Sie ist verstört und hat verweinte Augen, und einen Augenblick lang fürchte ich, ich könnte schuld daran sein.

      Als ich, beschämt über mein Mißgeschick, mit Mutter das Zimmer betrete, sitzen die Verwandten mit blassen Gesichtern und roten Augen um den Tisch. Fragend sehe ich Vater an, und fast tonlos sagt er zu mir: »Heute nacht haben sie Onkel Adolf nach Dachau abtransportiert.« Ich verstehe nicht recht, was er meint, weiß aber ganz sicher, daß es tausendmal schlimmer ist als das, was mir soeben passiert ist.

      Vater reist am nächsten Montagmorgen später ab als gewöhnlich. Mutter sagt mit erstickter Stimme, sie habe Angst um seine Sicherheit, doch er winkt fast fröhlich ab und meint, ihm könne so etwas nicht passieren.

      Ich würde heute gern die Schule schwänzen, aber beide finden, das könnte zu sehr auffallen.

      Harro erwartet mich ungeduldig am Garagentor und runzelt die Stirn, weil ich zu spät komme. Auf dem Weg zur Schule erfahren wir, daß sein Onkel, der Schmied, nicht in der Werkstatt ist; der Geselle sagt, er sei seit gestern abend nicht zu Hause gewesen.

      Auf dem Treppenabsatz vor der Schule stehen mindestens zehn Klassenkameraden in den braunen Uniformen des Jungvolks um Fritz herum. Die Koppeln blitzen, die braunen Hemden sind frisch gebügelt, als gäbe es in ihrem Club ein Fest. Sie schauen kriegerisch drein, und die älteren Jungen, ebenfalls in brauner Montur, geben sich ihnen gegenüber kameradschaftlicher als sonst.

      Fritz ruft mir etwas zu, aber ich verstehe es nicht oder will es nicht verstehen. Beim Hineingehen in der Reihe zischt er so laut, daß sogar Herr Kreis hören kann, was er sagt: »Du kleiner Stinkjude, bist du taub? Wir werden dir die Ohren auswaschen.«

      Während des Unterrichts kommt Unruhe auf, aber Herr Kreis greift kaum ein, als spürte er, daß da etwas schwelt, was er nicht löschen kann. In der Pause lungere ich in seiner Nähe herum und Walter tut es mir nach.

      Bevor noch die Meute drinnen ist, sitzen wir als erste in der Bank. Harro flüstert vorsichtig, wenn die Glocke nach der letzten Stunde läutet, müßten wir uns so schnell wie möglich auf die Beine machen.

      Ich passe beim Unterricht nicht auf und meine falsche Antwort löst höhnisches Gelächter hinter mir aus.

      Der erste Glockenton ist noch nicht verstummt, als Harro und ich aufspringen. Den Ranzen unverschlossen unterm Arm geklemmt, rennen wir ohne Gruß zur Klasse hinaus, rasen die Treppe hinunter zur Tür, die gerade aufgemacht wird. Über die eigenen Füße stolpernd, mehr rutschend als laufend, erreichen wir über die Granitstufen vor der Terrasse den Gehsteig. An der Ecke der Stephanienstraße, wo der Weg steil ansteigt, ringen wir keuchend nach Atem und sehen, daß der Feind sich hinter uns vor der Schule versammelt; einige schnallen ihre Koppeln ab.

      Während des Laufens schiebt Harro den schweren Federkasten auf den Boden des Ranzens, macht ihn zu und löst den Schulterriemen. Er ruft, ich solle dasselbe tun und die Tasche als Schleuder zur Verteidigung benutzen.

      Mit klopfendem Herzen folge ich seinem Beispiel und versuche mit ihm Schritt zu halten. Langsam aber unaufhaltsam holt uns die braunrote Horde ein. Unsere Klassengenossen erscheinen uns wie Fremde, wie hungrige Wölfe im Schnee.

      Die Schmiede gewährt keinen Schutz. Die Tür ist verschlossen und bleibt auch nach heftigem Hämmern zu.

      Vor der Tür stürzen sie sich mit Kriegsgeschrei und sausenden Koppeln auf uns. Die Flucht nützt nichts mehr. Rasend lassen wir unsere Ranzen wie Mühlenflügel kreisen. Als ein Koppel mich trifft, schlage ich zitternd vor Wut, ohne den Schmerz zu fühlen, zurück. Das Schimpfen verstummt, der Kampf ist kalt und verbissen.

      Zwei Passanten in Arbeitskleidung befehlen uns mit donnernder Stimme aufzuhören, und plötzlich ist alles vorbei.

      Hinkend und blutend, voller Schrammen und Beulen setzen wir den Heimweg fort. Fritz und seine Meute bleiben stehen. Umzusehen wagen wir uns nicht.

      Vor Kummer schluchzend vergrabe ich mein tränenüberströmtes, geschundenes Gesicht an Mutters Brust, als sie die Tür öffnet. Ich finde keine Worte.

      Ein paar Tage später, fast wieder geheilt, warte ich am Garagentor auf Harro. Seine Mutter kommt heraus und sagt mit abgewandtem Blick, er sei allein gegangen. In der Klasse sitzt er auf einem anderen Platz, an der Tür, weit weg von mir.

      AUSWANDERUNG

      Vom Gelobten Land, das sich spitzwinkelig auf der blauen Sparbüchse abzeichnet, hat uns Rabbi Grünfeld während der Hebräischstunde in der muffigen Kammer neben der Synagoge schon viel erzählt. Dabei steht er hinter meinem Stuhl oder dem eines anderen Kindes, den linken Fuß auf der Stuhlleiste, weist mit dem dicken Zeigefinger, den er auch zum Bohren in seiner großen Nase benutzt, auf Passagen in der Kinderbibel und sticht zornig auf Buchstaben oder Schriftzeichen, die wir falsch benennen.

      Palästina ist ein Land aus einem verworrenen Märchen, das nur in dem Augenblick ein wenig Wirklichkeit gewinnt, wenn die bebrillte, grauhaarige Dame kommt, um die Münzen aus der Büchse zu nehmen. Mit einem kleinen Schlüssel öffnet sie die Klappe an der Unterseite, zählt die Münzen mit enttäuschtem Gesicht und belehrt uns, wieviel Geld benötigt wird für jenes ferne Land, in dem Milch und Honig fließen.

      Die Bilder in dem Buch, das sie uns hinterläßt, haben nichts mit den biblischen Geschichten zu tun, die ich kenne. Bauern und Bäuerinnen, die Steine aus dem Acker graben, pflügen oder Orangen ernten, Handwerker, die Bretter hobeln, Möbel anfertigen, Baracken bauen, ein Schmied, der Hufeisen schmiedet und vor einem Amboß Pferde beschlägt, Monteure, die Traktoren reparieren und Frauen mit weißen Kopftüchern, die Kühe melken und buttern, erinnern überhaupt nicht an den Tenach.

      Wenn sie atemlos von DEM LAND erzählt, glänzen ihre Augen und sie bekommt rote Flecken auf den Wangen.

      Mutters Lippen werden schmal. Sie sagt kein Wort, Vater rutscht unruhig auf dem Stuhl herum. Wenn die Tür hinter der Zionistin ins Schloß fällt, atmet er tief und erleichtert auf. Mit spöttischem Lächeln klappt er das Buch zu, schüttelt den Kopf und sagt, sowas sei nichts für ihn. Mutter zögert und gibt mir das Buch: Ob es nicht doch gut wäre, für später? Für eine Zukunft, die nicht mehr hier in Deutschland liegt?

      Die Schulferien sind Befreiung und Verdammnis zugleich. Graue Tage kriechen wie Schnecken dahin. Walter und sein Schwesterchen Miriam sind verreist, vorausgeschickt nach England. Niemand, mit dem ich reden oder spielen könnte. Sogar ein entzündeter Hals unterbricht die zähe Langeweile nicht, verstärkt sie eher. Übelgelaunt liege ich im Bett und mache meiner Mutter das Leben sauer.

      Mit Mühe bekomme ich das Fenster der Abteiltür auf, indem ich mich mit meinem ganzen Gewicht an den breiten Lederriemen hänge und ihn dann loslasse. Wind und fetter Kohlenqualm wehen ins Abteil. Meine Haare flattern, ich spüre die Geschwindigkeit des Zuges, der Mutter und mich nach


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