Tetralogie des Erinnerns. Gerhard L. Durlacher

Читать онлайн книгу.

Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher


Скачать книгу
und sauber, das Haar wieder glattgekämmt mit scharf gezogenem Scheitel. Er bleibt vor mir stehen, beugt sich vor, streicht mir über den Kopf und sagt: »Der Junge lebt, er hat Glück gehabt«, und zu meinen Eltern: »Die Nazis haben Dollfuß erschossen.«

      Tage eher als vorgesehen, am frühen Morgen, als Nebelschwaden über dem See treiben und der Sonnenschirm an unserem weißen Tischchen traurig tropft, treten wir die Heimreise an. Auf dem Rücksitz des Adlers betrachte ich fröstelnd die Nacken meiner Eltern. Sie kommen mir gebeugt vor. Aus ihrem Mund kommt kein Lied wie auf der Herfahrt. Nirgends ist es warm und sicher.

      MARIA UND LENA

      »Schau lieber nicht hin«, sagt Maria und nimmt mir die Sicht auf dem Käfig, indem sie ihre Hüfte an die von Mutter drängt.

      Wenn ich mich auf die Zehen stelle und den Hals recke, kann ich durch den ovalen Spalt zwischen ihnen trotzdem sehen, was passiert ist. Ein kleines Häufchen gelber Federn mit steif hochgezogenen Füßchen liegt mitten im Futter auf der Bodenplatte hinter den gelben Kupferstäben des Vogelbauers.

      Ich bringe kein Wort heraus, Tränen kitzeln auf meinen Wangen, als gehörten sie nicht mir.

      Dann öffnet sich der Schirm ihrer Körper und ich sehe, daß die Porzellanschälchen mit Wasser und Vogelfutter, die ich täglich füllen und saubermachen darf, unberührt sind. Was Kranksein bedeutet, weiß ich sehr gut, aber daß der Tod nie mehr geheilt werden kann, erklärt mir jetzt Maria mit feuchten Augen. Mutter streichelt meine Haare. Ihre Augen und Nase sind rot und ihre Trostworte klingen stark erkältet.

      Maria wischt meine Trauer fort mit dem Versprechen, Hänsel an einem schönen Ort unter einem Lindenbaum zu beerdigen, wie es sich gehört. In der Nähstube sucht sie nach schwarzen Samtresten und Wolle, Mutter findet eine schöne große Zigarrenkiste, die noch nach Holz und Tabak riecht, und ich zeichne den schönsten Vogel auf meinen Malblock, um ihn Hänsel als Gefährten mitzugeben. Sein Samtbett steht auf dem weißmarmornen Küchentisch und behutsam bettet Maria das gelbe Körperchen, zusammen mit meiner Zeichnung, hinein.

      Senta, meine schwarze Schäferhündin, darf heute nicht mit und begreift auch warum, als ich es ihr vor ihrem Korb im Gang hockend erkläre.

      Maria hat für den ernsten Gang einen dünnen dunklen Mantel über ihr Dirndlkleid angezogen; der große Hut mit den roten Kirschen sieht vornehm aus über den weichen braunen Haaren, die ich manchmal flechten darf. Ihre rechte Hand halte ich ganz fest, in der linken trägt sie das Kistchen vor sich her.

      Wir gehen am schäumenden, wilden Wasser der Murg entlang zum Kurhauspark, meiden aber die großen Wandmalereien der Trinkhalle, die wir beide scheußlich und gruselig finden.

      Alte Leute mit Stöcken, die den Michaelsberg, den Hügel hinter dem Gebäude mit dem heißen Quellwasser, Schritt für Schritt hinaufsteigen, gehen an uns vorbei.

      Zweimal werden wir neugierig angesprochen von Damen mit runzligen Gesichtern und schwarzen Bändchen mit goldenen Anhängern um den Hals. Maria erklärt ihnen, was wir tun, und ernst nickend lassen sie uns weitergehen.

      Außer Atem schauen wir uns oben auf dem Hügel um. Maria zeigt auf unser Haus, weit unten im Tal, und meint, daß Mutter jetzt sicher Ausschau hält. Mit ihrem Taschentuch, das nach Kölnisch Wasser riecht, wischt sie mir die Stirn ab.

      Auf der Kuppe des Michaelsberges, unter den alten Linden suchen wir unauffällig nach einem schönen Platz. Mit meiner Sandschippe, die Maria aus der Manteltasche zieht, graben wir abwechselnd ein Loch unter einem Strauch an einem Platz, den niemand kennt.

      Hänsels Sarg paßt genau hinein, und als das Holz unter der Erde verschwindet, wird mir bewußt, daß ich meinen Vogel nie wiedersehen werde. Tränen füllen mir die Augen und durch die Tränen hindurch sehe ich, daß auch Marias Augen naß sind.

      Sie legt zwei Holzstöckchen als Kreuz auf das Erdhäufchen, nimmt dann meinen Kopf in die Hände, an denen noch Erde klebt, drückt mir einen Kuß auf die Stirn und sagt leise: »Gott beschütze dich, Gerdl.«

      Ihre Worte machen mich unsäglich traurig, ohne daß ich genau weiß, warum. Schweres Schluchzen drückt mir auf die Brust und sitzt in meiner Kehle, und als zu Hause meine Stimme heiser klingt, fragt Mutter, ob ich mich dort oben auf dem Hügel erkältet hätte.

      Die Tage, die nun folgen, sind graue Regenwolken, aus denen halbverstandene Sätze tröpfeln. Maria muß zur »Gestapo«, bei ihren Eltern haben die Braunen vor der Tür gestanden. Bei Tisch erzählt sie von bösen Männern, die sie verspottet und ihr gedroht haben. Mit einem Kloß im Hals liest sie uns den Brief ihres Vaters vor, in dem er sie bittet, nach Hause zu kommen. Maria möchte lieber dableiben. Mutter zerknüllt ein naßgeweintes Taschentuch in der Hand. Vater ahnt Gefahr und stottert hin und wieder. Marias Angst zittert in mir nach. Ich schlage die Arme um ihren Hals, um sie festzuhalten.

      Ganz, ganz oft wird sie an mich denken, an meine Eltern und an Senta. Sie wird mir viele Briefe schicken, verspricht sie flüsternd, bald wird der böse Spuk vorbei sein.

      Zwei große rostbraune Mädlerkoffer mit hölzernen Beschlägen und Kupferschlössern stehen am nächsten Morgen im Gang, als ich unbemerkt mein Bett verlasse. Barfüßig und noch im Nachthemd betaste ich die Unheilsdinger und fühle, wie schwer sie sind. Wider besseres Wissen hoffe ich, daß die Koffer nicht ins Auto passen oder daß Maria es sich überlegt und lachend sagt: »Ich bleibe hier.« Durch meinen Kopf summt es: »O bleib bei mir und geh nicht fort!«

      Die Sommersonne scheint, als Maria neben Vater im Auto sitzt. Die Koffer auf dem Rücksitz. Obendrauf ihr dünner dunkler Mantel und der Kirschenhut. Unter Tränen lächelt sie mir zu, und ich winke und winke und winke, bis sie in meinem Meer von Traurigkeit ertrinkt.

      Ohne Maria ist unser Haus leer und unfreundlich. Die großen dunklen Möbel schauen streng, der Flügel glänzt schwarz und abweisend.

      Der schwere grüne Staubsaugertopf, den ich hinter Mutter hertrage, brummt und jault. Das rote Tuch um ihren Kopf kann nicht verhindern, daß ihr immer wieder eine Locke ins erhitzte Gesicht fällt, die sie mit dem Handrücken wegzuwischen versucht. Sie sagt nicht viel beim Reinemachen und das bleibt auch später in der Küche so. Sentas Schwanz hängt traurig herab, sogar wenn sie zum Einkaufen mitkommen darf. Meine kleine graue Großmutter mit dem wackelnden Kneifer, dem langen schwarzen Kleid und dem gehäkelten Umschlagtuch sitzt täglich viele Stunden an der neuen Tretnähmaschine und flickt oder ändert die Kleidung, die ich anprobieren muß, obwohl die Stecknadeln darin mich pieksen. Seit Marias Abreise wohnt sie ständig bei uns, sie hat ihr Zimmer in Dunkelgrün und Braun tapezieren lassen. Die Ecke, in der ihr großes Bett aus Mahagoniholz steht, gleicht einer Erdhöhle. Der frische Geruch von Kölnisch Wasser und Feldblumen ist verflogen und hat dem von Baldriantropfen und Kampferspiritus Platz gemacht.

      Morgens und am späten Nachmittag sehe ich zuweilen, wie Oma Gebete aus einem Buch aufsagt. Dabei steht sie vor der blinden Ostwand, nickt mit den Kopf, schaukelt den Oberkörper hin und her und antwortet nicht, wenn ich etwas frage oder sage.

      Wenn es regnet und ich mich zu Hause langweile, lasse ich meine aufziehbare Eisenbahn durch ihr Zimmer tuckern oder baue eine Hütte aus zwei Stühlen und ihrer braunen Kamelhaardecke. Dann erzählt sie von ihrer Jugend im Elsaß, ihrer Lehrzeit als Modistin in Straßburg, von Onkel Edward aus Metz mit dem feuchten grauen Schnurrbart und der Melone, der bei Verdun so tapfer gewesen ist, von ihren noch lebenden Brüdern und Schwestern im sicheren Frankreich und von ihrem Geburtsdorf bei Kehl, das ich von langweiligen Sonntagsbesuchen her kenne.

      An Samstagen betet sie länger als gewöhnlich und trägt das vornehme schwarze Kleid mit weißem Spitzenkragen und Jabot. Zur Synagoge geht sie nicht mehr, denn auf die Straße, wo viele Nazis herumlaufen, wagt sie sich nicht mehr hinaus.

      Seit ihrer Ankunft haben sich die Freitagabende verändert. Auf einem glänzenden, weißen Damasttischtuch stehen die silbernen Leuchter, die noch Mutters Vater gehört haben. Das Rosenthal-Service mit dem Goldrand, bislang im Büffet vergraben, glänzt wie neu unter der großen seidenen Hängelampe. Großmutter segnet die Kerzen, murmelt ein Gebet und hält die Hände vor die Flammen, als wolle sie


Скачать книгу