Tetralogie des Erinnerns. Gerhard L. Durlacher

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Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher


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daß mir ihre Kirche gar nicht gefällt.

      Hinter der Haustür murmelnde Stimmen. Niemand fragt, wo wir gewesen sind. Bekannte meiner Eltern reden laut durcheinander und gestikulieren aufgeregt mit Händen und Armen, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Einige haben den Hut aufbehalten wie in der Synagoge. Der dicke Kantor mit der großen glänzenden Nase hat ein rotes Gesicht. Er ist wütend. Die Eltern sehen unausgeschlafen aus, Vaters Stimme klingt matt.

      Während Maria beim Kaffeekochen hilft, erzählt Mutter, was auf dem Neujahrsball passiert ist. Mit offenen Ohren fange ich Bruchstücke einer Geschichte auf, die einem makabren Märchen ähnelt.

      Ein Ball mit Masken, Tanz, Champagner und Musik. Die Männer als Fürsten verkleidet, in alten Uniformen und mit gepuderten Perücken. Frauen mit weißen Korkenzieherlocken, in Spitzen und weiten Reifröcken. Seidene Gesichtsmasken, aber auch als Schweine, Kühe oder Löwen vermummte Gestalten. Schornsteinfeger und Aschenputtel, Clowns und Nymphen, Pierrots und Bauernknechte. Überall buntes Konfetti und Papierschlangen wie große Spinnweben, in die sich alle verstricken.

      Und dann die Glockenschläge zum Neuen Jahr, das Knallen der Champagnerkorken, das Platzen der Knallbonbons, das Absetzen der Masken.

      Nur einer, ein eleganter Pascha mit Turban und Krummschwert, läßt sein Gesicht bedeckt. In den weiß behandschuhten Händen hält er eine prächtig verzierte Schachtel mit auserlesenen Pralinen. Leicht sich verneigend geht er herum und bietet mit höfischer Gebärde den jüdischen Damen, manchmal auch den Herren, seine süße Gabe an. Mutter lehnt trotz des freundlichen Drängens ab. Champagner und Schokolade vertragen sich nicht recht miteinander, aber viele greifen gierig zu.

      Niemand weiß genau, wann er hereingekommen ist, und genauso plötzlich ist er verschwunden.

      Das rauschende Fest geht weiter und auf einmal fühlt Frau Roos sich nicht wohl. Nach Atem ringend, beide Hände krampfhaft auf den Bauch gedrückt, läuft sie in den Gang, wo schon andere Damen verzweifelt an den Toilettentüren hämmern.

      Wüstes Gedränge bricht aus, die Frauen in den beschmutzten Kleidern weinen. Mutter versucht zu helfen. Sie ist wohlauf wie alle, die die Bonbons verschmäht haben.

      Eine kleine Gruppe jüdischer Männer, verstärkt durch deutsche Freunde, nimmt die Verfolgung auf, findet aber den Übeltäter nicht. Ihre Beute ist lediglich der Turban und die leere Schachtel, auf deren Unterseite in großen schwarzen Lettern steht: »Die Juden stinken. Heil dem Führer.« Als Unterschrift: ein Hakenkreuz.

      In die Eisblumen an den winterlichen Fenstern mache ich Gucklöcher mit einem Fünfmarkstück, das mir Mutter gegeben hat, und sehe den wirbelnden Schneeflocken zu. Morgen will ich auf meinem neuen Davoser Schlitten wie die anderen Kinder den Abhang hinuntersausen und hoffe auf eine weiße Welt.

      Vater kommt hinter der Zeitung hervor, die ihn morgens und abends unsichtbar macht. Mit dem Kneifer auf der Nase verschwindet jetzt Großmutter hinter der Papierwand. Sie streitet sich mit ihrem Bruder, der sie jetzt fast täglich besucht, wer als erster die Zeitung lesen darf. Sie schimpfen böse über einen Adolf, offensichtlich einen anderen als meinen alten Onkel mit dem Pflaster auf der Stirn. Vater dreht an den beiden Knöpfen des jaulenden und knatternden Radioapparates, bis er Stimmen hört, die ebenfalls von diesem Adolf sprechen, aber sein Nachname klingt anders.

      Niemand interessiert sich für den Schnee und im Bett träume ich davon, wie weiß und weich es jetzt draußen ist.

      Der Januar bringt Winterfreuden, aber zu Hause ist keine frohe Stimmung. Sonntags sause ich vor oder hinter Vater, Mutter oder Maria den Hügel neben dem Theater hinunter, rolle manchmal vor Vergnügen und Angst kreischend durch den lockeren Schnee, wenn sich unser kleines Fahrzeug allein seinen Weg sucht. Neidisch schaue ich den anderen Kindern nach, die als geübte Rodelfahrer paarweise an uns vorbeirasen, und halte den Mund, wenn sie uns nach einem Sturz verspotten.

      Die Woche über ist es langweilig. Selten hat jemand Zeit für mich. Alle lesen die Zeitung oder horchen auf die Stimmen aus dem Radiokasten. Vater klagt über die Firma, Mutter über die Geschäfte, wo es kaum noch Butter, Eier und Fleisch zu kaufen gibt. Und immer wieder die Namen von fremden Männern im fernen Berlin: Von Papen, Hindenburg oder Schleicher, und vor allem dieser Hitler, der auch Adolf heißt wie mein Onkel.

      Von Tag zu Tag wird es kälter.

      Die Eisblumen an den Fensterscheiben sind jeden Morgen dicker, und auf den Tennisplätzen an der Lichtenthaler Allee tummeln sich Schlittschuhläufer in Pudelmützen, Knickerbokkern und dicken Wollpullovern. Auch Vater schraubt die Schlittschuhe unter seine Wanderstiefel und gleitet schwankend übers Eis. Mutter und ich schauen lachend zu. Als er hinfällt, eilt sie zur Umzäunung, aber er hat sich schon hochgerappelt, versucht noch ein paar Schritte und gibt dann auf.

      Auf dem Weg zum Haus seines Bruders freue ich mich auf die Kaninchen und Meerschweinchen meiner Vettern.

      Wegen der Kälte stehen die Ställe im Wintergarten. Wie stolze Zirkusdirektoren lassen die Vettern ihre Tiere Kunststückchen vorführen und erzählen von der langen Reise nach Holland, die sie in Kürze antreten werden.

      Überall im Haus stehen Kisten; das Spielzeug ist unauffindbar in Stroh und Zeitungspapier verpackt. Meine Tante ist schon vorausgereist in das unbekannte Rotterdam, die Vettern und mein Onkel werden ihr bald folgen. Ihre Aufregung stimmt mich traurig, denn ich habe ja nicht viele Freunde zum Spielen.

      Am letzten Sonntag des Monats kann man immer noch Schlittschuh laufen, aber heute ist der vereiste Tennisplatz nicht voll. Viele Leute tragen auf der Brust ein rundes, rotweißes Abzeichen mit dem schwarzen Hakenkreuz in der Mitte. Die Kinder, die sie an der Hand führen oder die mit ihren Müttern am Gehsteigrand stehen, haben Papierfähnchen mit demselben Zeichen.

      Ganz fern dröhnen Trommeln im Takt der Marschmusik und als der Wald von Fahnen, Bannern und funkelnden Instrumenten in Sicht kommt, stimmt die Kapelle die drohenden, dumpfen Töne des Horst-Wessel-Liedes an. Hunderte von gestiefelten Männern in braunen Hemden und Reithosen, mit Koppeln, Schulterriemen und Mützen, deren Band in das Doppelkinn schneidet, marschieren wie Marionetten im strengen Takt vorbei, den Blick starr auf den Nacken des Vorgängers geheftet. Um den linken Arm die rote Binde mit dem schwarzen Hakenkreuz im weißen Feld, und aus den Kehlen schallt rauh und abgehackt: »Die Fahne hoch! Die Reihen dicht geschlossen!«

      Riesige Fahnen flattern über ihren Köpfen und aus den Absätzen sprühen Funken wie bei den Pferden der Brauerei. Der Boden dröhnt unter den stampfenden Sohlen und in den engen Gassen klirren die Fensterscheiben.

      Ich ziehe Mutter nach vorn, um besser sehen und hören zu können. Sie will nicht zwischen den Fähnchen schwenkenden Kindern und ihren winkenden Eltern stehenbleiben. Widerwillig folge ich ihr zu unserer Wohnung. Hinter dem Rücken der Leute zwängen wir uns an den Häusern und Geschäften entlang. Zwischen den hochgestreckten Armen und den Fähnchen sehe ich das Ende des Zuges, der mit donnerndem Trommelschlag vorbeizieht. Unsere Haustür auf der gegenüberliegenden Seite scheint unerreichbar. Um mich herum Kinder, älter und jünger als ich, stolz auf ihre Fähnchen. Ich komme mir nackt und ausgestoßen vor, als ich, von Mutter mühsam mitgezerrt, die schwere Tür hinter mir ins Schloß fallen höre.

      Allmählich verklingt die Marschmusik. In Vaters Sessel sitzend, schlägt Mutter die Hände vor die Augen, auf ihren Wintermantel tropfen Tränen.

      Montags ist der Kindergarten geschlossen. Vergeblich der lange, steile Spaziergang, vorbei am Kurhaus mit den kleinen Geschäften. Die Fotografin steht neben der Tür und fragt Mutter, wie ihr die Fotos in der Auslage gefallen. Auf einem Foto stehe ich, mit dicken Backen und gräßlich süßem Lachen.

      Am Kiosk stehen frierende Männer, sie lesen die Zeitung und blasen Wolken aus Zigarrenrauch. Auf den Straßen laufen heute viel mehr Polizisten herum als gewöhnlich.

      Zu Hause ist Waschtag. Im Keller steht Maria in einem Nebel aus Wasserdampf und wäscht, Mutter mangelt die Laken. Oben in der Küche dampfen Kohlrouladen auf dem Herd. Auch bei den Nachbarn im Treppenhaus rieche ich das Montagsgericht, das zum Waschtag gehört, das ich aber gar nicht mag.

      Beim Mittagessen spricht niemand, alle hören den Stimmen aus dem Radio


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