Tetralogie des Erinnerns. Gerhard L. Durlacher

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Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher


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mit dem Möbelgeschäft meiner Großmutter, türmt sich ein grauer, steinerner Ritter, der Bismarck heißt. Aus seinem weißen Schneehut ragt eine Spitze wie von einem Blitzableiter. Offenbar steht er auf Wache und ich fühle mich erleichtert, daß sein strenger Blick mir in das schwarze Marmorportal des Geschäftes nicht folgen kann.

      Maria muß ein paarmal auf den kupfernen Klingelknopf drücken, bis hinter den dunklen Möbelkonturen und den gerollten Teppichsäulen ein Licht aufblinkt.

      Am schlitternden Gang und am flatternden Arbeitskittel erkenne ich Alois, den Polierer. Er sucht nach dem Schlüsselloch und rüttelt mit zitternden Fingern an der Türklinke. Mit verschwommenem Blick sieht er uns aus feuchten, dunklen Augen freundlich an und brummt unter seinem Walroßschnurrbart, als sei es ihm peinlich: »Fröhliche Weihnachten«.

      Schlurfend geht er uns voran zum Licht und zieht eine Spur von Branntwein- und Spiritusdunst hinter sich her. Den Geruch kenne ich. Vor kurzem hing er noch im Musikzimmer, wo Alois unseren Ibach-Flügel fast zwei Tage lang mit gleichmäßigen Armbewegungen und puffenden Geräuschen wie von einer Dampfmaschine glänzend rieb. Was Mutter mir damals über seine Trunksucht zuflüsterte, erweckte mein Mitgefühl, und ich bin froh, daß er heute beim Weihnachtsfest mitfeiern darf.

      In dem gespenstischen Saal mit den weichen Fauteuils und Kanapees, den großen Holz- und Messingbetten mit Pullmannmatratzen, den turmhohen Buffets und den schweren, o-beinigen Tischen lasse ich Marias Hand los und stürze mich in das verbotene Abenteuer der elastischen Springfedern.

      Aus der hellen Türöffnung höre ich meinen ungekürzten Vornamen rufen, und obwohl die Botschaft in Wolle, Plüsch und Bouclé verlorengeht, weiß ich, daß ich meine Entdekkungsfahrt unterbrechen muß, da das Fest beginnt.

      Das Büro hinter dem Verkaufsraum badet im Licht und sieht viel fröhlicher aus als sonst. Die alten, kahlen Tische und Schreibtische, an Wochentagen mit Papieren, Tintenfässern, Löschpapier und drehbaren Ständern mit klappernden Stempeln vollgestellt, sind jetzt unter Mutters weißen Tischtüchern verborgen und mit roten Bändern und frischem Tannengrün geschmückt. Große Adventskränze, auf denen weiße Kerzen in Blechhaltern stecken, hängen an Schnüren von der gelb geräucherten Decke. Nach einem Christbaum brauche ich mich nicht umzusehen. Großmutter hat zu Hause mit schriller Stimme die Grenze bei den grünen Kränzen gezogen. Ein Baum wäre ihrer Meinung das gleiche wie Schinken oder Speck.

      Auf dem weißem Damast unter den Kränzen liegt das Schlaraffenland. Die Torten und Napfkuchen, die Zimtsterne und Weihnachtsplätzchen halten meinen Blick gefangen. Erst nach Mutters leiser Ermahnung gebe ich den bekannten und weniger gut bekannten Leuten des Personals die Hand und wünsche ihnen fröhliche Weihnachten.

      Wie Gäste sitzen sie in ihrem eigenen Zimmer auf Stühlen und Kisten, alle festlich gekleidet außer Alois, der noch seinen Arbeitskittel trägt.

      Meine kleine Großmutter thront in einem neuen Lehnsessel aus dem Austellungsraum. Um ihre Schultern liegt das Umschlagtuch mit den weiten Maschen, durch die das Spitzenjabot des schwarzen Kleides schimmert. Ihre geäderte rechte Hand stützt sich auf den schwarzen Stock mit dem Silberknauf, und wenn sie zu Mutter oder zu meiner niederländischen Tante eine Bemerkung macht über die Leckerbissen und die Päckchen, die auf einem Tisch im Schatten ihres Stuhles liegen, zeigt sie mit dem Stock darauf, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

      Verärgert über diese Geste runzelt die Frau meines Onkels die Augenbrauen über den dicken, funkelnden Brillengläsern. Als ihr Mann Anstalten macht, den Päckchenabend mit einer Ansprache zu eröffnen, flüstert sie vernehmlich, das müsse mein Vater tun. Stolz, daß er sich ohne Zögern dazu bereitfindet, und neugierig auf den Inhalt der Päckchen schaue ich zu, wie er jedem Angestellten ein Geschenk, auf dem sein Name steht, in die Hand legt, und etwas sagt, worüber alle lachen müssen.

      Martha, die blonde Verkäuferin mit den wie Kopfhörer über den Ohren gerollten Zöpfen, dreht den Verschluß der großen Flasche 4711 auf und träufelt Kölnisch Wasser auf mein sauberes Taschentuch.

      Alois überlegt, ob er den Cognac anbrechen soll und entschließt sich, bis zu Hause damit zu warten, wenn Mutter ihm Schnaps verspricht.

      Gersbach, Vaters Chauffeur, der kaum in ein Auto paßt ohne sich den kurz geschorenen Kopf anzustoßen, lacht erfreut, als seine großen Hände mühelos in die neuen gelben Handschuhe gleiten. Die Seidenkrawatte bindet er sich sofort vor dem Spiegel um und fängt spontan zu singen an. Vater fällt ein und das Perlenfischerduett, das sie auf langen Reisen oft im Auto ertönen lassen, bringt die einen zum Stutzen und die anderen zum Lachen.

      Onkel Adolf, Großmutters Schwager, schaut stirnrunzelnd vor sich hin. Durch das große Pflaster auf seiner Stirn erscheint sein runzliges Gesicht weniger faltig als sonst. Ein »Zusammenstoß mit den Braunen« höre ich Großmutter mißbilligend murmeln, aber was das bedeutet, verstehe ich nicht so recht.

      An ein Geschenk für ihn wurde nicht gedacht, weil er Chanukka feiern sollte, was er aber nicht tut. Er bekommt das Päckchen, das eigentlich für Willy, den unlängst verschwundenen Buchhalter, bestimmt war, aber die Zigarren bessern seine Laune nicht.

      Wie zum Scherz stimmt Gersbach die ersten Takte eines Weihnachtsliedes an, hört aber bald wieder auf, da nur Martha ein paar Töne mitpiepst.

      Maria, Mutter und Tante teilen die Torte und den Napfkuchen aus, reichen Süßigkeiten und Plätzchen herum und schenken Kaffee und Schnaps ein, während Großmutter zuschaut, als sei sie nicht ganz wach. Der Kneifer fällt ihr in den Schoß.

      Wie von fern höre ich das Stimmengesumm und durch die beschlagenen Fenster meiner Schläfrigkeit sehe ich, wie das Weihnachtsfest allmählich erlischt.

      Maria liest mir aus dem dicken Märchenbuch mit den schaurig-schönen Bildern vor, aber heute abend höre ich nicht richtig zu. Satzfetzen über den Silvesterball, die durch die offene Tür des Schlafzimmers dringen, machen mich ungeheuer neugierig.

      Meine Eltern kleiden sich zum Fest an. Schon mittags habe ich Vaters schwarzen Zylinder, der sonst in einer Schachtel unauffindbar im Schrank steht, die langen weißen Glacéhandschuhe meiner Mutter und die weiße und schwarze Seidenmaske mit sauberen Händen vorsichtig berühren dürfen. Später habe ich in einem unbewachten Augenblick vor dem Spiegel mit der viel zu großen schwarzen Maske auf der Nase Grimassen geschnitten.

      Im Gang verabschiede ich mich von ihnen. Mutter hebt den Schleier über die Hutkrempe. Nur ganz vorsichtig darf ich meinen Gutenachtkuß auf ihre samtig gepuderte Wange drükken. Ihr Kuß ist heute abend wie ein Schmetterlingshauch, denn Lippenstift färbt ab. So schön habe ich meine Eltern noch nie gesehen, sie sind noch schöner als die Fotos in der Illustrierten.

      Die Clips in den Ecken des graden Ausschnitts von Mutters schwarzem Crèpe-de-Chine-Kleid funkeln blau und grün. Der Fuchs um ihren Hals schaut mit schläfrigen Augen aus dem grauen Pelz, betäubt vom Parfüm.

      Vater rückt die weiße Smokingschleife zurecht, nachdem er ungeduldig ein aufgegangenes Kragenknöpfchen zugeknöpft hat, das den steifen Klagen am Oberhemd mit dem weißen, einer Stalltür ähnelnden Plastron festhält.

      Als Maria die Tür hinter ihnen geschlossen hat, kehrt wieder Ruhe in die Wohnung ein. Ganz fern surrt ein Auto und Glocken läuten in Erwartung des Neujahrstages 1933.

      Leises Klirren von Tellern und Besteck dringt aus dem Eßzimmer. Maria bereitet das Frühstück, aber an diesem ersten Sonntag ist außer ihr und mir noch niemand wach.

      Länger und lauter als sonst rufen die Glocken. Ich schlüpfe aus der Daunenwärme meines Bettes und jammere Maria so lange die Ohren voll, bis sie schließlich einwilligt, mich in ihre Kirche mitzunehmen.

      Durch die prickelnd kalte Winterluft, aus der kein Schnee fallen will, gehe ich an Marias Hand zu dem großen gelben Kirchengebäude mit den hohen Türmen auf dem Platz, wo auch der Doktor wohnt. Mutter will nie hinein, jetzt werde ich endlich sehen, was sich dort verbirgt.

      Viele fröstelnde Menschen stehen barhäuptig zwischen den harten Holzbänken. Unheimlich hoch sind Decke und Leuchter, Orgelklänge rollen dröhend durch meinen Bauch und das Gegurgel des Pastors hallt von allen Seiten wieder. Ich verstehe


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