Tetralogie des Erinnerns. Gerhard L. Durlacher

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Tetralogie des Erinnerns - Gerhard L. Durlacher


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       Nachschrift

       Der Beginn einer Reise

       Die Illusionisten

       Rückblick

       Befreiungen

       Nachwort

       Anmerkungen

       Bibliographie

      Streifen am Himmel

       Eli, Eli, lama asabthani Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!

      Aus der Erinnerung steigen unterbelichtete Bilder, abwechselnd mit grellen, überbelichteten Szenen, eingeätzt in meine Netzhaut. Manchmal, wenn auch lückenhaft, gelingt es, diese Filmblitze zu erkennen und zu ordnen. Die Gefühle von damals, Angst und Verzweiflung, Ohnmacht und Wut, Schmerz und Kummer liegen tief verborgen, Lava in einem scheinbar toten Vulkan.

      Die Erzählungen einstiger Mithäftlinge, Bücher, ein Foto, eine Assoziation beschwören die Bilder herauf, von versengenden Emotionen begleitet.

      Im Herbst 1981 erschienen zwei solcher Bücher: The Terrible Secret von Walter Laqueur und Auschwitz and the Allies von Martin Gilbert. Der jeweilige Untertitel schließt jedes Mißverständnis über den Inhalt aus: Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers ›Endlösung‹ und How the Allies responded to the news of Hitler’s Final Solution. Zwei nüchterne und ernüchternde Bücher über den Mord, das Wissen über den Mord und die Reaktionen der Welt auf die Ermordung von sechs Millionen Juden zwischen 1939 und 1945.

      Das heisere Gebrüll der Kapos und SS-Leute wird von dem rhythmischen Summen in der Luft übertönt und plötzlich sehen wir alle die weißen Schafwollfaden, die von kaum erkennbaren Metallstückchen über das helle Blau des Himmels gezogen werden. Hunderte von Augenpaaren folgen den Fäden, bis die SS-Männer, mit quadratisch aufgerissenen Mäulern schreiend und Schläge austeilend, abermals abzählen lassen.

      Dort oben tobt das Scheingewitter, das uns die Kraft schenkt, auf den Füßen zu bleiben, und das ein kaum merkbares Lächeln auf unsere Gesichter zeichnet. Der Appell endet in der Nacht, nachdem die Sirenen nochmals geheult haben. Von den fünf geflohenen Häftlingen sind drei lebend aufgegriffen worden: Piechowiak, Wagschal und Kenner. Blutverschmiert und geschunden werden sie zurückgebracht in unser Lager, das Männerlager Birkenau II D.

      Als wir am Abend des 8. August in Fünferreihen, die Kranken stützend oder tragend, schmutzig und erschöpft durch das Tor der befreienden Arbeit getrieben werden, sehen wir zwei der Geflohenen hängen. Singend, den Tod im Herzen, von Orchestertönen begleitet, marschieren wir mit nach innen gekehrtem Blick an den beiden Galgen vorbei. Ein Tod, wahrscheinlich sanfter als der, der Piechowiak in der Strafkompanie erwartet.

      Am selben Abend wieder die Wollfäden am Himmel. Hatte man uns vergessen dort draußen, dort droben? Waren die Ölraffinerien von Blechhammer und Trzebinia von größerer Bedeutung als wir und unsere Verbrennungsöfen? Im folgenden Monat brannten sie nicht mehr Tag und Nacht. Die Juden aus Ungarn hatten das Leiden auf Erden fast hinter sich. Aus Westerbork kam der letzte Transport: 1019 Menschen, von denen 470 nicht sofort den Flammen zum Opfer fielen. Unter ihnen Anne Frank, damals noch ein unbekanntes Mädchen im Ozean des Todes.

      Zu der Zeit wußte ich kaum, was geschah. Ein Vorhang hatte sich vor mein Wahrnehmungsvermögen gesenkt. Ich registrierte das grauenhafte Geschehen, ohne es zu Kopf und Herz durchzulassen.

      Jetzt, nach fast vierzig Jahren, fällt dann und wann ein Archivblatt aus dem Panzerschrank meines versunkenen Gedächtnisses.

      Den Bombenangriff auf Monowitz, den Gilbert beschreibt, haben meine Kameraden vom Rollwagenkommando und ich laut und deutlich gehört. Am 13. September 1944 dachten wir einen Augenblick an Befreiung. Einen Augenblick lang wußten wir hinter unseren glasigen Hirnfassaden, daß es ein »Draußen« gibt und daß Auschwitz nicht auf einem anderen Planeten liegt.

      Den ganzen Morgen lang hatten wir keuchend, von Flüchen und Schlägen gescheucht, Holz und Asphaltpappe ins Mexikolager transportiert. Wo wir es abgeladen haben, weiß ich nicht mehr, aber weit von der Rampe, dem Umsteigeplatz zur Ewigkeit, wird es nicht gewesen sein. Der SS-Mann verschwand, vermutlich in einem Schutzraum, und wir standen da, als warteten wir auf einen warmen Sommerregen.

      Der Bombenangriff auf die I. G. Farben kann nicht lange gedauert haben. Um uns herum Sturm, Staub und Getöse. Keine Angst. So müssen Bauern fühlen, wenn auf ihr Flehen plötzlich Regen fällt. Die wenigen Bomben auf Birkenau gaukelten uns einen Moment lang vor, die Krematorien seien getroffen, aber das war blitzartig vorbei. Was von diesem Wunschtraum übrigblieb, war Enttäuschung, staubverklebte Augen und ein handgroßer Granaten- oder Bombensplitter, den Jiri D. aufgehoben hatte. ›Gejts mit Gott, abber gejt’s‹, schrie der Kapo und der überfrachtete Wagen, mit uns als Karrenhunden davor, setzte sich langsam in Bewegung.

      Die Frage, ob man uns da draußen und da oben vergessen hatte, brannte vielen von uns lange auf der Zunge. Warum diese Frage erst seit wenigen Jahren wirklich ausgesprochen wird und auch heute noch nicht beantwortet ist, läßt sich nur vermuten.

      Der plausibelste Grund ist sicher in den Archivgesetzen der betreffenden Länder zu suchen. Englische und amerikanische Archive geben erst seit kurzem Bruchstücke der jüngsten Geschichte preis. Die Historiker Laqueur und Gilbert haben aufgrund ihrer früheren und derzeitigen Arbeiten die besten Voraussetzungen für die Spurensuche. Laqueur als Direktor des ›Institute of Contemporary History‹, auch bekannt als ›Wiener Library‹ in London, jenes Institutes, das während des Zweiten Weltkriegs für die British Intelligence eine der wichtigsten Informationsquellen über Deutschland war, und Gilbert als offizieller Biograph von Winston Churchill, mit Zugang zu Geheimakten, von denen kein Laie zu träumen gewagt hatte, daß sie für die Nachwelt erhalten bleiben würden.

      Ein anderer Grund für das lange Schweigen über die grauenhaften Ereignisse erinnert mich an die Sphinx und Ödipus: Die richtige Antwort auf das Rätsel stürzt sie von ihrem Sockel. Das Rätsel ist gelöst, aber der Preis ist bitter und das Ende ohne Illusionen.

      Auch wir kennen jetzt die Antwort


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