Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Charles Dickens

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Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs - Charles Dickens


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Doch, was macht das! Komme ich ja auf diese Weise zu einer Luftveränderung, kriege viel zu sehen und habe wenig zu tun, was mir alles ganz prächtig zusagt. Ich bleibe daher dabei: die Pickwickier sollen leben.«

      Vierzehntes Kapitel. Nachrichten über Eatanswill – über den Stand der dortigen Parteien – und über die Wahl eines Parlaments-Mitglieds für diesen alten, loyalen und patriotischen Flecken.

      Wir wollen offen gestehen, daß wir bis zu der Zeit, wo wir uns zuerst in die Masse der Papiere des Pickwick-Klubs versenkten, noch nie etwas von Eatanswill gehört hatten; auch wollen wir mit gleicher Freimütigkeit bekennen, daß wir bis auf den heutigen Tag vergeblich den Beweisen für die wirkliche Existenz einer Ortschaft dieses Namens nachgeforscht haben. In jede von Herrn Pickwicks Aufzeichnungen und Angaben das größte Vertrauen setzend, und uns nicht erkühnend, unsere eigenen Gedanken den gedachten Notizen des großen Mannes entgegenzustellen, haben wir jede Autorität zu Rate gezogen, die wir für den fraglichen Gegenstand überhaupt auftreiben konnten. Wir haben jeden Namen in den Listen A und B durchgegangen, ohne dem von Eatanswill zu begegnen: wir haben mit der größten Sorgfalt jeden Winkel auf den Spezialkarten unserer Grafschaften geprüft, und unsere Untersuchung hatte dasselbe Resultat.

      Wir glauben daher annehmen zu dürfen, daß Herr Pickwick, aus einer ängstlichen Besorgnis, um nirgends Anstoß zu geben, und aus jenem Zartgefühl, das ihm nach dem Zeugnis aller, die ihn kennen, in so hohem Grade eigen ist, absichtlich einen fingierten für den wirklichen Namen der Stadt eingesetzt hat, in der er seine Beobachtungen anstellte. Wir werden in dieser Vermutung durch einen an sich geringfügigen und unbedeutenden, aber aus unserm Gesichtspunkt Beachtung verdienenden Umstand bestärkt. In Herrn Pickwicks Tagebuch steht nämlich die Tatsache aufgezeichnet, daß er sich mit seinen Gefährten auf der Post habe einschreiben lassen, um mit dem Norwicher23 Wagen abzufahren. Diese Notiz ist jedoch später wieder ausgestrichen, als wenn er die Absicht gehabt hätte, sogar die Richtung zu verheimlichen, in der jener Waldflecken gelegen ist. Wir wollen daher keine weiteren Vermutungen über diesen Punkt wagen, sondern lieber mit unserer Erzählung fortfahren, uns mit dem reichen Material begnügend, das uns die Charaktere derselben an die Hand geben.

      Die Leute in Eatanswill hatten, wie die Bewohner so mancher andern Städte, eine gar hohe Meinung von ihrer Bedeutsamkeit, und jedermann daselbst, ein großes Gewicht auf sein Beispiel legend, hielt sich für verpflichtet, mit Leib und Seele einer der beiden großen, das Städtchen spaltenden Parteien – den Blauen und den Gelben – beizutreten. Die Blauen ließen keine Gelegenheit vorübergehen, wo sie den Gelben entgegentreten konnten, sowie dagegen die Gelben jede Gelegenheit ergriffen, mit den Blauen Händel anzufangen. Die Folge davon war, daß es jedesmal zu Skandalszenen kam, wenn die Gelben und Blauen auf dem Rathaus, dem Markte oder bei Versammlungen auf öffentlichen Plätzen zusammentrafen. Bei diesem Mangel an Harmonie wurde jede Angelegenheit in Eatanswill zur Parteifrage. Wenn die Gelben den Vorschlag machten; den Marktplatz mit neuen Laternen zu versehen, so zettelten die Blauen öffentliche Versammlungen an und brachen den Stab über den wahnsinnigen Plan. Wenn die Blauen einen neuen Brunnen in der Hauptstraße anlegen wollten, so schrien die Gelben, einer für alle und alle für einen über Verrücktheit. Es gab blaue Läden und gelbe Läden, blaue Wirtshäuser und gelbe Wirtshäuser: – es gab sogar einen blauen Flügel und einen gelben Flügel in den Kirchen.

      Natürlich war es ein wesentliches und notwendiges Erfordernis, daß jede dieser gewaltigen Parteien ihr besonderes Organ hatte: darum tauchten in der Stadt zwei neue Blätter auf – die Eatanswill-Zeitung und der Eatanswill-Unabhängige; die erstere vertrat die Grundsätze der Blauen, die letztere trug entschieden Gelb als Grundfarbe. Beides waren ausgezeichnete Blätter. Welche vorzügliche leitende Artikel, welche mutigen Angriffe! – »Unsere unwürdige Nebenbuhlerin, die Zeitung« – »das gemeine und niederträchtige Journal, der Unabhängige« – »das erbärmliche Lügenblatt, der Unabhängige« – »die schändliche Verläumderin, die Zeitung« – diese und andere kühne Ausfälle waren in jeder Nummer zu Dutzenden anzutreffen und riefen bei der einen Hälfte der Bevölkerung die ungemessenste Freude, bei der andern die höchste Erbitterung hervor.

      Herr Pickwick hatte vermöge seines gewohnten Scharfsinns und Sehergeistes einen besonders günstigen Moment zu seiner Reise in den Flecken gewählt. Nie war eine solche Spannung vorgekommen. Der ehrenwerte Samuel Slumkey von Slumkey Hall war der blaue Kandidat, und Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge bei Eatanswill, wurde von seinen Freunden dazu ausersehen, das Interesse der Gelben zu vertreten. Die Zeitung stellte den Wählern von Eatanswill vor, daß nicht nur die Augen Englands, sondern der ganzen zivilisierten Welt auf sie gerichtet seien; und der Unabhängige verlangte in gebieterischem Tone zu wissen, ob die Bürger von Eatanswill wirklich die großen Männer wären, für die sie von jeher gehalten worden seien, oder elende, sklavische Werkzeuge, die weder den Namen Engländer noch die Segnungen der Freiheit verdienten. Noch nie zuvor war die Stadt in eine solche Aufregung versetzt worden.

      Es war abends spät, als Herr Pickwick und seine Freunde in Begleitung ihres dienstbaren Geistes Sam von dem Dache der Eatanswiller Postkutsche herabstiegen. Große blaue Seidenfahnen flatterten an den Wänden des Gasthauses zum Stadtwappen, und an jedem Fenster waren ungeheure Papierbogen angeklebt, worauf mit gigantischen Buchstaben geschrieben stand, daß hier das Komitee des ehrenwerten Samuel Slumkey täglich seine Sitzungen halte. Ein Menge Gaffer war auf der Straße versammelt und betrachtete einen Mann auf dem Balkon, der sich zugunsten des Herrn Slumkey heiser schrie und bereits ein kirschrotes Gesicht hatte; doch die Kraft und Stärke seiner Beweisgründe wurde von dem beständigen Gerassel einer großen Trommel, die das Komitee des Herrn Fizkins an der Straßenecke aufgestellt hatte, einigermaßen geschwächt. An seiner Seite stand ein geschäftiges Männchen, das von Zeit zu Zeit den Hut abnahm und die Menge zu dem Beifallstumult aufforderte, der dann auch mit der größten Begeisterung erscholl. Als der kirschrote Herr sich röter als jemals geschrien hatte, schien er seinen Zweck ebensogut erreicht zu haben, als hätte ihn jedermann verstanden.

      Die Pickwickier waren kaum abgestiegen, als sie von einer Gesellschaft der »Redlichen und Unabhängigen« umringt wurden, die sie alsbald mit dreimaligem donnernden Freudengeschrei empfingen, in das sofort die ganze Menge, denn für die Menge ist es nicht immer nötig zu wissen, wem ihr Freudengeschrei gilt, mit furchtbarem Triumphgebrüll einstimmte, das sogar den Kirschroten auf dem Balkon zum Schweigen brachte.

      »Hurra!« schrie die Menge zum Schluß.

      »Noch ein Hurra«, kreischte der Kleine auf dem Balkon, und wieder brüllte die Menge, als wären ihre Lungen von Gußeisen mit Stahlfedern.

      »Slumkey für immer!« schrien die Redlichen und Unabhängigen.

      »Slumkey für immer!« wiederholte Herr Pickwick, seinen Hut abnehmend.

      »Nicht Fizkin«, schrie der Haufe.

      »In keinem Falle«, rief Herr Pickwick.

      »Hurra!«

      Und es erfolgte ein abermaliges Gebrüll, wie von einer ganzen Menagerie, wenn der Elefant die Glocke zur kalten Küche gezogen hat.

      »Wer ist Slumkey?« flüsterte Tupman.

      »Weiß nicht«, versetzte Herr Pickwick ebenso leise. »Pst! stellen Sie keine Fragen. Es ist immer das beste, bei solchen Gelegenheiten zu tun, was der große Haufe tut.«

      »Aber gesetzt, es sind zwei Haufen«, warf Herr Snodgraß dazwischen.

      »Dann hält man sich an den größten«, entgegnete Herr Pickwick.

      Ganze Bände hätten nicht mehr sagen können.

      Sie traten ins Haus. Die Menge bildete Spalier und brüllte. Der erste Gegenstand, nach dem sie sich erkundigten, war ein Nachtlager.

      »Können wir hier Betten haben?« fragte Herr Pickwick den Kellner.

      »Weiß nicht, mein Herr«, versetzte der junge Mann; »fürchte, es ist alles besetzt, Herr – will nachfragen, Herr.«

      Er entfernte sich, kehrte aber augenblicklich wieder zurück und fragte, ob die Herren »Blaue« wären.

      Da


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