Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Charles Dickens

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Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs - Charles Dickens


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Samuel Slumkey.

      »Nein, ich zweifle beinahe«, versetzte der Agent; »wenn Sie es selbst übernehmen würden, lieber Herr, ich meine fast, das würde auf Ihre Popularität einen äußerst günstigen Einfluß haben.«

      »Gut«, erwiderte der ehrenwerte Samuel Slumkey im Tone der Resignation. »Dann muß ich es eben selbst tun; was liegt im Grunde daran?«

      »Ordnet den Zug!« riefen die zwanzig Komiteemitglieder.

      Unter dem Jubelgeschrei der versammelten Menge traten das Musikkorps und die Konstabler, das Komitee und die Wahlmänner, die Berittenen und die Wagen in Reih und Glied – jeder von den Zweispännern mit soviel Herren vollgepfropft, als aufrecht darin Platz hatten; und der für Herrn Perker bestimmte war mit Herrn Pickwick, Herrn Tupman, Herrn Snodgraß und ungefähr einem halben Dutzend Komiteemitgliedern vollgestopft.

      Es war ein Augenblick ungeheurer Spannung, als der Zug auf den ehrenwerten Samuel Slumkey wartete. Plötzlich erscholl ein gewaltiges Jubelgeschrei.

      »Er kommt«, rief der kleine Herr Perker mit einer Aufregung, die um so größer war, als der Zug nicht sehen konnte, was vorging.

      Ein zweites, weit stärkeres Jubelgeschrei.

      »Er hat den Männern die Hände geschüttelt«, rief der kleine Agent.

      Ein dritter, noch weit intensiverer Jubel.

      »Er hat die Kleinen getätschelt«, sagte Herr Perker vor Freude zitternd.

      Ein Gebrüll, das die Lüfte erbeben ließ.

      »Er hat eins von ihnen geküßt«, schrie das entzückte Männchen.

      Ein zweites Gebrüll.

      »Er hat ein anderes geküßt«, kreischte der Aufgeregte.

      Ein drittes Gebrüll.

      »Er küßt sie alle!« schrie der Begeisterte.

      Und die Wolken donnerten von dem betäubenden Jubelgeschrei der Menge, der Zug setzte sich in Bewegung.

      Wie er sich aber nun eigentlich mit dem zweiten Zuge verwickelte, und wie er sich aus der darauf folgenden Verwirrung wieder herausarbeitete, ist mehr, als wir zu beschreiben vermögen; denn Herrn Pickwick wurde gleich anfangs von einer gelben Fahnenstange der Hut bis ans Kinn über das Gesicht geschlagen. Als er wieder einen Blick auf seine Umgebung gewinnen konnte, sah er sich, wie er erzählt, mitten in einer ungeheuren Staubwolke, von grimmigen, wilden Gesichtern und tüchtig arbeitenden Fäusten umringt. Er wurde von einer unsichtbaren Gewalt ans dem Wagen gerissen und persönlich in den Kampf verwickelt, aber mit wem oder wie, oder wo, das ist er nicht imstande, zu bestimmen. Dann fühlte er sich von der andrängenden Menge auf eine hölzerne Treppe hinaufgeschoben, und als er seinen Hut frei machte, sah er sich von seinen Freunden umgeben und stand ganz vorn auf der linken Seite des Wahlgerüsts. Die rechte war von den Gelben eingenommen und das Zentrum für den Bürgermeister und seine Beamten bestimmt. Einer der letzteren, der wohlbeleibte Ausrufer von Eatanswill, gebot mit einer ungeheuren Glocke Schweigen. Dann verbeugten sich Herr Horatio Fizkin und der ehrenwerte Samuel Slumkey, beide die Hand an der linken Brust, mit äußerster Leutseligkeit gegen die brausende See von Köpfen, die vor dem Gerüst wogte und mit Schreien, Jauchzen, Jubeln und Brüllen ein Getöse hervorbrachte, das einem Erdbeben Ehre gemacht hätte.

      »Dort ist Winkle«, sagte Herr Tupman, seinen Freund an den Ellbogen stoßend.

      »Wo?« fragte Herr Pickwick, seine Brille hervorziehend, die er glücklicherweise bis jetzt in der Tasche behalten hatte.

      »Dort«, antwortete Herr Tupman, »auf jenem Dachgiebel.«

      Und wirklich saß er in der bleiernen Traufrinne eines Ziegeldaches ganz behaglich auf einem Stuhle neben Madame Pott. Sie winkten zum Zeichen der Erkennung mit ihren Taschentüchern, und Herr Pickwick warf der Dame zur Erwiderung des Kompliments eine Kußhand zu.

      Die Feierlichkeit hatte noch nicht begonnen, und da eine untätige Menge immer zu Späßen aufgelegt ist, so war diese höchst unschuldige Handlung hinreichend, ihre Spottlust zu wecken.

      »He, du alter, schlechter Kerl«, rief eine Stimme, »schielst du noch nach Dirnen?«

      »So ein grauer Sünder!« rief eine andere.

      »Setzt seine Brille auf, um nach einer verheirateten Frau zu schielen«, sagte eine dritte.

      »Wie er ihr zuwinkt mit seinem alten, verzwickten Auge«, rief eine vierte.

      »Gib auf deine Frau acht, Pott«, kreischte eine fünfte – und dann erhob sich ein schallendes Gelächter.

      Da diese Spottrcden von hämischen Vergleichen zwischen Herrn Pickwick und einem alten Bock und andern Witzeleien der Art begleitet waren, und überdies noch die Ehre einer unschuldigen Dame antasteten, kannte Herrn Pickwicks Zorn keine Grenzen. Da aber im nämlichen Augenblick Schweigen geboten wurde, begnügte er sich damit, auf die Menge einen Blick voll Mitleid über ihren beschränkten Verstand zu werfen, worauf sie ein noch brüllenderes Gelächter aufschlug, als je vorher.

      »Stille!« riefen die Beisitzer des Bürgermeisters.

      »Whiffin, gebietet Stille«, sagte der Bürgermeister mit einer Würde, wie sie seine hohe Stellung erforderte.

      Auf diesen Befehl hin gab der Ausrufer ein zweites Konzert mit seiner Glocke, worauf ein Mann in der Menge ausrief: »Semmeln!« und ein neues Gelächter war die Folge.

      »Meine Herren«, rief der Bürgermeister so laut, wie es nur immer die Kraft seiner Stimme gestattete. »Meine Herren, Brüder, Wahlmänner des Fleckens Eatanswill, wir sind heute hier versammelt, um einen Repräsentanten an die Stelle unseres letzteren –«

      Hier wurde der Bürgermeister durch eine Stimme in der Menge unterbrochen:

      »Glück dem Bürgermeister, und möge er nie den Nagel und die Drahtpfanne verlassen, wodurch er sein Geld erworben hat!«

      Diese Anspielung auf das Gewerbe des Redners wurde mit ungeheurem Beifallsgeschrei aufgenommen, das unter Begleitung der Glockenmusik des öffentlichen Ausrufers den übrigen Teil seiner Rede, mit Ausnahme des Schlußsatzes, unverständlich machte. Darin nämlich dankte er der Versammlung für die stille Aufmerksamkcit, womit sie ihn von Anfang bis zu Ende angehört hätte – eine Dankbezeugung, die ein zweites Jubelgeschrei hervorrief, das ungefähr eine Viertelstunde dauerte.

      Darnach bat ein großer, hagerer Mann mit einer sehr steifen weißen Halsbinde – nachdem er wiederholt von der Menge aufgefordert worden war, »einen Knaben nach Hause zu schicken und anzufragen, ob er seinen Stimmzettel nicht unter dem Kopfkissen habe liegen lassen« – die Versammlung um die Erlaubnis, eine taugliche und geeignete Person zu nennen, die ihre Interessen im Parlament vertreten könnte. Und als er Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge bei Eatanswill, genannt hatte, erhoben die Fizkinisten ein beifälliges und die Slumkeyisten ein mißbilligendes Geschrei. Das hielt solange an und war so laut, daß er und sein Beistand, statt zu sprechen, ebensogut lustige Lieder hätten singen können, ohne daß dadurch irgendwer klüger geworden wäre.

      Nachdem die Freunde Horatio Fizkins Esq. ihren Triumph gefeiert hatten, trat ein galliges Männchen mit einem rötlichgelben Gesicht auf, um eine andere taugliche und geeignete Person vorzuschlagen, die die Wahlbürger von Eatanswill im Parlament vertreten könnte. Ohne Zweifel würde der Rötlichgelbe trefflich davongekommen sein, wäre er nicht zu gallsüchtig gewesen, um nicht der Menge eine willkommene Zielscheibe des Witzes zu werden. Aber nachdem er einige Sätze voll blumenreicher Beredsamkeit vorgebracht hatte, klagte der Rötlichgelbe die von der Menge an, die ihn unterbrochen hatten. Er ging dann nach diesem fruchtlosen Bemühen zu Drohungen gegen die Herren auf der Wahlbühne über. Ein Aufruhr entstand, der ihn in die Notwendigkeit versetzte, seine Gefühle nur noch in einer ernsten Gebärdensprache auszudrücken. Darauf überließ er die Rednerbühne seinem Beistand, der eine Rede von halbstündiger Dauer vom Papier herunterlas und sich auf keine Weise hätte stören lassen. Denn er hatte sie obendrein der Eatanswill-Zeitung eingesandt, in der sie Wort für Wort abgedruckt war.

      Dann trat


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