Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Charles Dickens

Читать онлайн книгу.

Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs - Charles Dickens


Скачать книгу
Anzug – ärgerlich, nicht wahr?«

      Nun war aber allgemeines Wohlwollen einer der Hauptzüge der Pickwickiertheorie, und niemand erwies sich eifriger in Vollführung dieses edlen Grundsatzes, als Herr Tracy Tupman. Die Zahl der in den Akten der Gesellschaft aufgeführten Beispiele, in denen dieser vortreffliche Sohn des Klubs Hilfsbedürftige wegen abgelegter Kleider oder Gcldunterstützung nach den Häusern anderer Mitglieder schickte, ist fast unglaublich.

      »Ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen zu diesem Zwecke einen Anzug borgen zu können,« sagte Herr Tracy Tupman, »aber Sie sind ziemlich schlank und ich –«

      »Etwas beleibt – ein echter Bacchus – ohne Kranz – vom Faß gestiegen und in Kammgarn geschlüpft, he? – nicht doppelt destilliert, sondern doppelt gemahlen – ha! ha! – Geben Sie den Wein herüber.«

      Ob Herr Tupman etwas verdutzt über den bestimmten Ton war, in dem der Fremde die Einhändigung der Flasche verlangte, die er so wacker zu bearbeiten verstand, oder ob er sich durch den schmählichen Vergleich eines der bedeutendsten Pickwick-Klub-Mitglieder mit einem unberittenen Bacchus verletzt fühlte, eine Frage, die sich nicht mit Sicherheit aufklären läßt. Er bot ihm indes den Wein an, hustete ein paarmal und filierte den Unbekannten einige Sekunden mit finsterem Gesicht. Als er aber bemerkte, daß sich diese Persönlichkeit durch seine Blicke nicht im geringsten stören ließ, gewannen seine Züge allmählich einen milderen Ausdruck, und er brachte aufs neue den Ball zur Sprache.

      »Ich wollte bemerken, Sir,« sagte er, »daß vielleicht, wenn auch mein Anzug für Sie zu weit ist, doch der meines Freundes, des Herrn Winkle, Ihnen besser passen würde.«

      Der Fremde maß Herrn Winkle mit den Augen, und seine Züge strahlten von Zufriedenheit, als er sagte:

      »Wie angegossen.«

      Herr Tupman sah sich um. Der Wein, der bereits bei einer früheren Gelegenheit seine schlafbringenden Kräfte an Herrn Snodgraß und Herrn Winkle erwiesen, hatte eine gleiche Wirkung auch an Herrn Pickwick geübt. Dieser Gentleman hatte allmählich die verschiedenen Stufen durchlaufen, die der durch eine reichliche Mahlzeit veranlagten satten Trägheit und ihren Folgen vorangehen, indem er die gewöhnlichen Übergänge von der Höhe der Heiterkeit zu der Tiefe der Abstumpfung, von der Tiefe der Abstumpfung zu der Höhe der Heiterkeit durchmessen hatte. Wie eine Gaslampe im Freien, durch deren Röhre der Wind streicht, hatte er für einen Augenblick einen unnatürlichen Glanz verbreitet, dann war aber sein Licht zu einem kaum bemerklichen Flämmlein zusammengeschmolzen, das nach einer Weile für einen Moment wieder mit irrem und unsicherem Scheine aufflackerte, um schließlich ganz zu verlöschen. Sein Kopf war auf die Brust herabgesunken, und ein fortwährendes Schnarchen, gelegentlich durch einen Erstickungsanfall unterbrochen, war das einzige hörbare Merkmal von der Anwesenheit des großen Mannes.

      Die Versuchung, den Ball zu besuchen und die Schönheit der Kenter Damen auf seine Sinne wirken zu lassen, übte einen gewaltigen Einfluß auf Herrn Tupman, und nicht minder groß war die Versuchung, den Fremden mitzunehmen. Letzterer schien Ort und Einwohner so gut zu kennen, als ob er von Kindheit auf daselbst gelebt hätte – ein Vorteil, der dem Pickwickier durchaus abging. Herr Winkle schlief, und Herr Tupman hatte in solchen Dingen genug Erfahrung, um zu wissen, daß sein Freund, sobald er erwachte, dem Laufe der Natur zufolge sich schwerfällig nach seinem Bette schleppen würde. Er war unschlüssig.

      »Füllen Sie Ihr Glas und geben Sie die Flasche herüber«, rief der unermüdliche Gast.

      »Winkles Schlafgemach liegt neben dem meinigen«, sagte Herr Tupman. »Wenn ich ihn jetzt weckte, so würde ich ihm nicht gut begreiflich machen können, was ich von ihm will; aber er hat einen Anzug in seinem Mantelsack. Ich denke, Sie könnten ihn wohl auf dem Ball tragen; ich brächte ihn nachher wieder an Art und Stelle, ohne daß er überhaupt etwas von der Sache erführe.«

      »Kapital!« meinte der Fremde; »herrlicher Plan – verdammt verdrießliche Lage – vierzehn Anzüge in den Kisten –- und jetzt eines andern Kleider anziehen müssen – sehr guter Gedanke das – gewiß.«

      »Wir müssen aber jetzt unsere Billette lösen«, sagte Herr Tupman.

      »Nicht der Mühe wert, eine Guinee zu halbieren«, versetzte der Fremde. »Wollen aufwerfen, wer für beide zahlt – ich rate – Sie werfen: nun – Frauenzimmer – Frauenzimmer – holdes Frauenzimmer.«

      Das Goldstück fiel nieder und der Drache (den man aus Galanterie Frauenzimmer nennt) kam nach oben zu liegen.

      Herr Tupman klingelte, kaufte die Billette und rief, man solle ihnen leuchten. In einer Viertelstunde stak der Fremde ganz in Nathanael Winkles Kleidern.

      »Es ist ein neuer Frack«, sagte Herr Tupman, als sich der Fremde mit großer Selbstgefälligkeit in einem Ankleidespiegel betrachtete; »der erste, der mit unsern Klubknöpfen gemacht wurde.«

      Er lenkte dabei die Aufmerksamkeit des andern auf die großen vergoldeten Knöpfe, die zu beiden Seiten von Herrn Pickwicks Brustbild die Buchstaben P.K. erkennen ließen.

      » P.K.« sagte der Fremde, – »schnurriger Einfall – Bild des alten Knaben und P.K. Was soll dieses P.K.? – Seltsamer Anzug – wie?«

      Herr Tupman erklärte ihm mit steigendem Unwillen und großer Wichtigkeit die Bedeutung der geheimnisvollen Devise.

      »Etwas kurz in der Taille – nicht wahr?« meinte der Fremde, über die Schultern blickend, um im Spiegel die hinteren Knöpfe zu besehen, die allerdings so ziemlich in der Mitte seiner Rückenlänge saßen. »Gerade wie eine Briefträgerjacke – wunderliche Fräcke das – kontraktmäßig angefertigt – kein Maß genommen – geheimnisvolle Schickung der Vorsehung – alle kleinen Leute kriegen lange Röcke und alle großen kriegen kurze.«

      So fortschwatzend machte sich Herrn Tupmans neuer Freund seinen –oder vielmehr Herrn Winkles– Anzug zurecht und ging, von Herrn Tupman begleitet, die Treppe hinauf nach dem Ballsaal voran.

      »Ihre Namen, meine Herren«, sagte der Türsteher.

      Herr Tupman wollte eben vortreten, um seinen Namen und Titel anzugeben, als ihn der Fremde daran hinderte.

      »Durchaus keine Namen« – und dann flüsterte er Herrn Tupman zu – »braucht keine Namen – nicht bekannt – zwar gut in ihrer Weise, aber nicht berühmt genug – ganz herrliche Namen für eine kleine Gesellschaft, aber machen keinen Eindruck in öffentlichen Ballgesellschaften – inkognito ist besser – Herren von London – ausgezeichnete Fremde – so etwas.«

      Die Tür wurde geöffnet und Herr Tracy Tupman trat mit dem Fremden in den Ballsaal.

      Es war ein langer Raum mit scharlachrot ausgeschlagcnen Bänken, der durch Wachskerzen auf gläsernen Wandleuchtern erhellt wurde. Die Musiker befanden sich auf einer erhöhten Tribüne, und die Quadrillen wurden durch zwei oder drei Reihen von Tänzern systematisch durchgeführt. Zwei Spieltische waren in einem anstoßenden Zimmer, und zwei Paar alte Damen mit einer entsprechenden Anzahl Herren daselbst im Kartenspielen begriffen.

      Die Tour war zu Ende: die Tänzer und Tänzerinnen gingen in dem Saale auf und ab, und Herr Tupman pflanzte sich mit seinem Gefährten in einer Ecke auf, um die Gesellschaft zu beobachten.

      »Bezaubernde Frauenzimmer«, sagte Herr Tupman.

      »Warten Sie noch ein Weilchen«, sagte der fremde; »wird bald kurzweiliger. – Vornehme noch nicht da – wunderlicher Ort – oberste Arsenalbeamte kennen nicht die unteren – untere Arsenalbeamte nicht den niederen Adel – niederer Adel nicht die Kaufleute – Arsenaldirektor kennt keinen Menschen.«

      »Was ist das für ein junger Mensch – der dort mit dem blonden Haare, den kleinen Augen und dem modischen Anzuge?« fragte Herr Tupman.

      »Pst! Bitte – kleine Augen – modischer Anzug – junger Mensch – nur gescheit – ist Fähnrich im siebenundvierzigsten Regiment. – Der ehrenwerte Wilmot Snipe – große Familie – die Snipen – sehr große Familie.«

      »Sir Thomas Clubber, Lady Clubber und Fräulein Töchter!«


Скачать книгу