Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Charles Dickens

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Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs - Charles Dickens


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und zwei jungen Fräuleins in modischen Anzügen von derselben Farbe, in den Saal.

      »Direktor – Vorstand des Arsenals – großer Mann – höchst bedeutender Mann«, flüsterte der Fremde Tupman zu, als der Wohltätigkeitsausschuß Sir Thomas Clubber nebst Familie nach dem oberen Teile des Saales führte. Der ehrenwerte Wilmot Snipe nebst andern ausgezeichneten Gentlemen drängten sich an die Fräuleins Clubbers, um ihnen ihre Huldigungen darzubringen; und Sir Thomas Clubber stand kerzengerade da und betrachtete über sein schwarzes Halstuch hinweg die versammelte Gesellschaft.

      »Herr Smithie und Madame Smithie nebst Fräulein Töchter!« lautete die nächste Ankündigung.

      »Wer ist Herr Smithie?« fragte Herr Tracy Tupman.

      »Er ist Arsenalbeamter«, versetzte der Fremde.

      Herr Smithie verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor Sir Thomas Clubber, und Sir Thomas Clubber erwiderte den Gruß mit stolzer Herablassung. Lady Clubber nahm einen Operngucker vor und beäugelte Madame Smithie nebst Familie, während Madame Smithie ihrerseits eine Madame So und So anstierte, deren Gatte nicht beim Arsenale angestellt war.

      »Oberst Bulder nebst Frau Gemahlin und Fräulein Tochter«, waren die nächsten Ankömmlinge.

      »Garnisonskommandant«, beantwortete der Fremde Herrn Tupmans fragenden Blick.

      Fräulein Bulder wurde sehr warm von den Fräuleins Clubber bewillkommt, und auch zwischen der Frau Oberst und Lady Clubber fand eine über alle Beschreibung zärtliche Begrüßung statt. Oberst Bulder und Sir Thomas Clubber boten sich gegenseitig ihre Schnupftabaksdosen an und sahen ganz wie ein paar Alexander Selkirks10 aus – Herrscher über alles, soweit sie schauen konnten.

      Während die Aristokratie der Stadt – nämlich die Bulders, Clubbers und Snipes – in dieser Weise ihre Würde oben im Saal bewahrte, ahmten die übrigen Klassen der Gesellschaft ihr Beispiel in andern Teilen desselben nach. Die weniger aristokratischen Offiziere des Siebenundneunzigsten widmeten sich den Familien der untergeordneten Arsenalbeamten. Die Frauen der Anwälte und Weinhändler standen an der Spitze einer dritten Klasse (die Frau des Brauers machte den Bulders Besuch), und Madame Tomlinson, die Posthalterin, schien durch gegenseitige Übereinkunft zum Haupte der Frauen aus dem Handelsstande erwählt worden zu sein.

      Eine der populärsten Personen in ihrem Kreise war ein kleiner, wohlbeleibter Mann, mit einem in die Höhe gestrichenen Kranz von schwarzen Haaren, der eine ungeheure Glatze auf dem Scheitel dieses Herrn umgab – Doktor Slammer, Regimentsarzt beim Siebenundneunzigsten. Der Doktor schnupfte mit jedermann, lachte, tanzte, machte Witze, spielte Karten, tat alles und war allenthalben. Diesen Beschäftigungen, so vielseitig sie auch waren, fügte der kleine Doktor eine noch weit wichtigere hinzu – er war nämlich unermüdlich, einer kleinen alten Witwe die größte Aufmerksamkeit zu erweisen, deren reiches Kostüm, überdies mit Juwelen überladen, sie als eine äußerst wünschenswerte Zugabe zu seinem beschränkten Einkommen kennzeichnete.

      Herrn Tupmans und seines Gefährten Blicke waren schon einige Zeit auf den Doktor und die Witwe gerichtet, als der Fremde das Schweigen unterbrach.

      »Schweres Geld – heiratslustige Alte – windbeuteliger Doktor – kein übler Gedanke – herrlicher Spaß«, waren die vernehmlichen Sentenzen, die seinen Lippen entströmten.

      Herr Tupman sah ihm fragend ins Gesicht.

      »Ich will mit der Witwe tanzen«, sagte der Fremde.

      »Wer ist sie?« fragte Tupman.

      »Weiß nicht – sah sie in meinem Leben nie – den Doktor ausstechen – da geht sie.«

      Der Fremde schritt sofort durch den Saal, lehnte sich an das Kamingesims und begann dem fetten Gesichte der kleinen alten Dame Blicke achtungsvoller und melancholischer Bewunderung zuzuwerfen. Herr Tupman sah in stummem Erstaunen zu. Der Fremde machte, während der kleine Doktor mit einer andern Dame tanzte, reißende Fortschritte. Die Witwe ließ ihren Fächer fallen: der Fremde hob ihn auf, überreichte ihn – ein Lächeln – eine Verbeugung – ein Knix – einige verbindliche Worte. Er ging keck auf den Festordner los, kehrte mit ihm zurück – eine kleine einleitende Pantomime, und der Fremde trat mit Madame Budger in die Quadrille ein.

      So groß auch Herrn Tupmans Überraschung über dieses abgekürzte Verfahren war, so wurde es doch durch die des Doktors bei weitem überboten. Der Fremde war jung und die Witwe fühlte sich geschmeichelt. Des Doktors Aufmerksamkeiten blieben fortan unbeachtet, und die entrüsteten Blicke, die er seinem unerschütterlichen Nebenbuhler zuschoß, waren verloren. Doktor Slammer meinte, der Schlag müsse ihn rühren. Er, der Doktor Slammer, Regimentarzt vom Siebenundneunzigsten – im Augenblicke verdunkelt von einem Menschen, den niemand zuvor gesehen, und von dem man auch jetzt noch nicht wußte, wer er war! Doktor Slammer – Doktor Slammer vom Siebenundneunzigsten verschmäht! Unmöglich! Es konnte nicht sein! Aber doch war es so: da standen sie. Was? Er stellt ihr seinen Freund vor? Konnte er seinen Augen trauen? Er sah abermals hin und fühlte die schmerzliche Notwendigkeit, sich zuzugestehen, daß ihn seine Sehorgane nicht betrogen. Madame Budger tanzte mit Herrn Tracy Tupman – da war kein Irrtum. Ja, es war leibhaftig die Witwe, die mit einer ungewöhnlichen Leichtigkeit an ihm vorbeihüpfte: und Herr Tracy hüpfte gleichfalls mit der allerfeierlichsten Miene umher und tanzte (wie es bei vielen Leuten der Fall ist), als sei eine Quadrille nichts Belustigendes, sondern eine ernste Prüfung der Gefühle, deren Bestehung eine unbeugsame Entschlossenheit fordere.

      Der Doktor ertrug all dies schweigend und geduldig, ebenso auch das darauf folgende Präsentieren von Negus11 und Süßigkeiten nebst dem Flirt, der diese Aufmerksamkeiten begleitete. Als jedoch der Fremde verschwand, um Madame Budger zu ihrem Wagen zu führen, stürzte Slammer rasch aus dem Saale, während jedes Teilchen des bisher eingestöpselten Grimms aufbrauste und ihm in großen Schweißtropfen an seinem zornroten Kopfe hervorsprudelte.

      Der Fremde kehrte mit Herrn Tupman zurück. Er sprach leise und lachte. Der kleine Doktor dürstete nach seinem Blute – denn offenbar hatte sein Nebenbuhler gesiegt und frohlockte jetzt darüber.

      »Sir!« sagte der Doktor mit furchtbarer Stimme, indem er eine Karte zum Vorschein brachte und seinen Feind in eine Ecke des Vorraums zog, »mein Name ist Slammer, Doktor Slammer, Sir – beim siebenundneunzigsten Regiment – Chatamkaserne – meine Karte, Sir, meine Karte.«

      Er würde noch mehr gesagt haben, aber die Entrüstung erstickte seine Worte.

      »Ah,« versetzte der Fremde kaltblütig, »Slammer – sehr verbunden – höfliche Aufmerksamkeit – jetzt nicht krank, Slammer – aber wenn ich es bin – nach Ihnen schicken.«

      »Sie – Sie sind ein Schieber, Sir,« keuchte der wütende Doktor, »ein Gauner – eine Memme – ein Lügner – ein – ein – kann Sie nichts veranlassen, mir Ihre Karte zu geben, Sir?«

      »O, ich sehe,« sagte der Fremde halb beiseite, – »starker Negus hier – liberaler Wirt – sehr einfältig – gewiß – Limonade viel besser – heiße Gemächer – ältliche Herrn – haben's morgen zu büßen – grausam – grausam«; und er entfernte sich um einige Schritte.

      »Sie wohnen hier im Hause, Sir«, sagte der zornige kleine Mann; »Sie sind jetzt betrunken, Sir; Sie werden morgen weiter von mir hören, Sir. Ich will Sie schon ausfindig machen, Sir – ja, ich will Sie schon ausfindig machen.«

      »Meinetwegen machen Sie mich ausfindig, wenn Sie mich nur nicht zu Hause finden«, versetzte der unerschütterliche Fremde.

      Doktor Slammer schoß Giftblicke, als er seinen Hut mit einem zornigen Klapse auf seinem Kopfe befestigte, und der Fremde ging mit Herrn Tupman nach dessen Schlafgemach, um das erborgte Gefieder wieder in den Reisesack des nichtsahnenden Winkle zu stecken.

      Der letztere lag in tiefem Schlafe, und so war denn die Rückerstattung bald erledigt. Der Fremde scherzte viel, und der von Wein, Negus, Lichtern und Damen ganz verwirrte Herr Tracy Tupman meinte, daß dies ein ausgesuchter Spaß wäre. Sein neuer Freund entfernte sich, und nachdem der ehrenfeste Pickwickier nach einiger Mühe die ursprünglich für den Kopf berechnete Öffnung seiner Nachtmütze


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