David Copperfield. Charles Dickens

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David Copperfield - Charles Dickens


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vom Fenster aus zuzuschauen. Dadurch fand er sich früh genug auf den Umgang mit sich selbst angewiesen, indem er scharf seine Umgebung beobachtete und alles einem Gedächtnisse einzuprägen verstand, das ein geradezu eisernes genannt werden muß.

      Walter Scott erzählt in dem Fragment seiner Selbstbiographie, wo er von den gegen seine Lahmheit angewandten Heilmitteln spricht, daß er sich erinnere, als noch nicht ganz dreijähriger Junge auf dem Fußboden des Wohnzimmers in dem Pachthause seines Großvaters gelegen zu haben, eingewickelt in ein Schafsfell, das noch warm vom Leibe des Tieres gekommen war. David Copperfield's, oder wie man hier sagen muß, das Gedächtnis von Dickens reicht noch weiter zurück. Er erzählt, daß er weit genug in die dunkle Ferne seiner Kindheit zurückblicken kann, um darin seine Mutter und deren Dienstmagd zu unterscheiden, wenn auch in verkleinerter Gestalt für sein Auge, weil sie auf den Boden niederknieten oder sich bückten, während er sich selbst mit schwankendem Schritt von der einen zur andern tappeln sieht. Auch hat er seinem Freunde und späteren Biographen John Forster erzählt, daß er sich des kleinen Gartens vor dem Hause in Portsea deutlich erinnere, das er verließ, als er zwei Jahre alt war und wo er, von dem Kindermädchen durch ein niedriges mit der Gartenfläche fast in gleicher Höhe liegendes Küchenfenster beobachtet, mit irgend etwas Eßbarem in der Hand, in Begleitung seiner älteren Schwester umherlief. Eines Tages trug man ihn aus dem Garten hinaus, um ihm zu zeigen, wie die Soldaten exerzierten, »und ich entsinne mich (sagt Forster), daß er, als wir zu der Zeit, da er seinen Nickleb schrieb, zusammen in Portsmouth waren, die Gestalt des Paradeplatzes genau wiedererkannte, den er ein Vierteljahrhundert vorher an derselben Stelle als Kind gesehen hatte.«

      Er verkürzte sich, sobald er in die Geheimnisse des Alphabetes, eingeweiht war, die meiste Zeit mit Lesen, und ein günstiger Zufall fügte es, daß ihm aus seines Vaters Bücherei Cervantes, Lesage, Robinson Crusoe, Tausend und eine Nacht und die englischen Humoristen des achtzehnten Jahrhunderts in die Hände fielen. Sie waren eine Schar von Freunden, Lehrern und Spielkameraden für ihn gewesen, als er keinen anderen Freund und keine andere Beschäftigung hatte; diese Bücher verliehen seinem kleinen kränkelnden Leben Freude, Gestalt und Sonnenschein.

      Jedoch sollte dieser kongeniale Verlauf seiner geistigen Entwicklung nur zu bald unterbrochen werden; denn sein Vater, der inzwischen nach London versetzt worden war, geriet in Geldverlegenheiten, die sich nach und nach vermehrten und schließlich so verwickelten, daß er in das Schuldgefängnis wandern mußte. Während Charles in Chatam, wo sein Vater vorübergehend im Dockyard angestellt gewesen war, noch wenigstens die Elementarschule des jungen Baptistenpredigers William Giles besucht hatte, hörte hier in London jeglicher Unterricht für ihn auf. Der kaum zehnjährige, schwächliche, aber auffallend hübsche Knabe mußte sich schon seinen Lebensunterhalt selbst verdienen! Was man bei dem Erscheinen des Copperfield vermutet hatte, bestätigt sich; daß er nämlich manche Züge und Szenen aus seinem wirklichen Leben in diesen Roman verwebt habe: aber keiner ahnte, wie weit das ging.

      Dickens selbst ist der zehnjährige Knabe, den seine Eltern in ein schmutziges Wichsgeschäft gesteckt hatten, wo er von früh bis spät die Flaschen und Kruken mit kaltem Wasser auszuspülen und die gereinigten zuzubinden und mit Etiketten zu bekleben hat – und zwar für einen Wochenlohn von sechs Schillingen! Dickens selbst ist es, der für Micawber einzelne Hausratgegenstände versetzt und mit seinem Vater im Schuldgefängnisse sitzt. Nicht ein Stiefvater, nein sein rechter Vater hat ihn in den schmierigen Wichsladen gesteckt, und seine eigene Mutter wollte, ihn dahin zurückbringen, als er fortgelaufen war, weil er es bei dieser niedrigen unsaubern Beschäftigung unter rohen und gemeinen Menschen nicht mehr aushalten konnte.

      »Es scheint mir wunderbar,« sagt er einmal, »wie man mich in einem solchen Alter so leicht in die Welt hinausstoßen konnte. Es scheint mir wunderbar, daß selbst nach meinem Herabsinken zu der Stellung des armen kleinen Sklaven, der ich seit unserer Ankunft in London gewesen war, niemand Mitleid genug hatte mit mir – einem Kinde von hervorstechenden Fähigkeiten, aufgeweckt, lernbegierig, zart und körperlich wie geistig leicht verletzt – um vorzuschlagen, daß man, wie ganz gewiß möglich gewesen wäre, etwas erübrigen könne, mich in eine gewöhnliche Schule zu schicken.... Keine Worte können die geheime Seelenqual ausdrücken, die ich erduldete, als ich zu dieser Kameradschaft hinabsank, diese alltäglichen Gefährten mit denen meiner glücklicheren Kindheit verglich und meine frühen Hoffnungen, ein gelehrter und berühmter Mann zu werden, in meiner Brust zusammenstürzen fühlte. Der tiefe Schmerz, den ich bei dem Gedanken empfand, völlig verwahrlost und hoffnungslos zu sein, die Scham über meine Lage, das Elend meines jungen Herzens bei dem Gedanken, daß Tag auf Tag alles, was ich gedacht und gelernt, und woran ich meine Freude gehabt und meine Phantasie und meine Nacheiferung begeistert hatte, nur entschwand, um nie wiederzukehren, läßt sich nicht beschreiben. Mein ganzes Wesen war so von dem Schmerz und der Demütigung dieser Gedanken durchdrungen, daß ich selbst jetzt, berühmt, geliebt und glücklich wie ich bin, in meinen Träumen oft vergesse, daß ich ein liebes Weib und Kinder habe – selbst jetzt, da ich ein Mann bin – und trostlos in jene Zeit meines Lebens zurückwandere« . . . . . . »Ich schreibe nicht«, sagt er ein andermal, »aus Groll oder Zorn; ich weiß, daß alles so kommen mußte, um mich zu dem zu machen, der ich bin. Aber ich habe niemals vergessen, ich werde nie vergessen, ich kann nie vergessen, daß es meine Mutter war, die mich in dies Geschäft zurückbringen wollte!«

      Er hat es seine Eltern nie fühlen, geschweige denn entgelten lassen, er hat ihnen vielmehr, sobald er es nur vermochte, eine sorgenfreie, ja angenehme Lebensführung verschafft. Er hing mit einer gewissen Zärtlichkeit an diesem Micawber, diesem wunderlichen Vater, der gerade gestorben war, als er an seinem Copperfield schrieb. Eine gewisse Zärtlichkeit zeigt sich auch immer in der Schilderung dieser Romanfigur, besonders am Schlusse, wo er es mit meisterhafter Kunst verstanden hat, uns in Micawber eine Persönlichkeit zu hinterlassen, der man eine Art Achtung, und mehr noch eine gewisse Zuneigung nicht versagen kann. Aber es berührt einen doch seltsam, wenn man sich bei der Lektüre der Lebensgeschichte von Dickens erinnern muß, daß Micawber der Vater des Dichters ist! Dickens allerdings, und das versöhnt uns empfand nicht ebenso. Der Humor steckte so tief in seiner Natur, daß er durch Aufmerken auf die lächerlichen Züge das wohltuende Gesamtbild nicht zu beeinträchtigen glaubte. »Kenne ich einmal«, sagt er sehr bezeichnend, »einen Menschen mit all seinen kleinen und großen Fehlern, so wird er mir lieb und für mich ein interessanter Gegenstand.«

      In der unwürdigen Stellung eines Wichsekrukenreinigers scheint der beklagenswerte Knabe bis zu seinem zwölften Jahre ausgehalten zu haben; wenigstens hatten sich die äußeren Verhältnisse seines Vaters um das Jahr 1824 herum wieder soweit aufgebessert, daß Charles von neuem eine Schule besuchen konnte. Er sagte darüber selbst: »Ein Mr. Jones, ein Walliser, hielt eine Schule in Hampstead-Road, wohin mich mein Vater schickte, um einen Prospectus mit den Preisen zu holen. Die Jungen waren gerade beim Essen und Mr. Jones war in einem Paar leinener Halbärmel mit dem Vorschneiden beschäftigt, als ich mich dieses Auftrages entledigte. Er kam heraus und gab mir was ich wünschte, und hoffte, ich würde sein Schüler werden. Ich wurde sein Schüler: um sieben Uhr eines Morgens, sehr bald nachher, trat ich als Tagschüler in das Institut von Mr. Jones, das in Mornington Place lag und dessen Schulzimmer abgerissen wurde, als man die Eisenbahn nach Birmingham durch diesen Stadtteil führte. Damals aber war das Schulzimmer weder durch Eisenbahndirektoren noch durch Ingenieure bedroht und über der Tür befand sich ein Schild, geziert mit den Worten: »Wellington House Academy«.

      In der »Akademie« in Wellingtonhouse blieb er fast zwei Jahre, denn er war etwas über 14 Jahre alt, als er sie verließ. Sowohl in seinen kleineren Schriften als im Copperfield finden sich allgemeine Andeutungen darüber, und unter den aus den Household Words gesammelten Artikeln ist einer, der ganz besonders den Zweck hat, sie zu beschreiben. Er bezeichnet sie darin als besonders merkwürdig wegen ihrer weißen Mäuse. Er sagt, daß sich die Jungen allerhand Vögel, Finken, Hänflinge und Kanarienhähne in ihren Pulten, Schubkästen oder Hutschachteln hielten, daß aber weiße Mäuse die Haupttiere waren und daß die Jungen die Mäuse viel besser unterrichteten, als die Lehrer die Jungen. Nichtsdestoweniger erwähnt er, daß die Schule einer gewissen Berühmtheit in der Nachbarschaft genossen habe, obgleich niemand sagen konnte, worin sie bestanden hätte, und fügt hinzu, die Jungen seien der Ansicht gewesen, daß der Prinzipal


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