David Copperfield. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.sind ganz unter dem Einflüsse der Gespräche und der Lektüre der Carlyleschen Werke geschrieben worden. Dann kamen Wilkin Collins, Bulwer, der sich immer sehr freundlich und anerkennend gegen ihn benahm, Ainsworth, Yates, Thackeray und zuletzt George Eliot, »Dies ist ein Umstand,« sagt Julian Schmidt, »um die wir die Engländer sehr zu beneiden haben; ihre hervorragenden Talente halten eng zusammen und zeigen in ihrem Verkehr nicht nur gegenseitige Achtung, sondern wirkliche Teilnahme.« Freilich haben wir noch einen anderen Grund des Neides: für den ersten Abdruck des »Barnaby Rudge« (1840) erhielt Dickens 60 000 Mark. Aber auch damit war der erfolgreiche Novellist nicht zufrieden, sondern suchte immer nach neuen Mitteln, einen höheren Ertrag zu erzielen. So schrieb er im Oktober 1840: »Es erfüllt mich mit Zorn, daß meine Bücher jedermann bereichern, nur nicht mich, daß sie dem Verleger ein ungeheures Vermögen, mir selbst aber nur eine klägliche, dürftige Summe eingebracht haben.« Man vergleiche dazu sein Testament, in dem er fast 2 Mllionen Mark nach unserem Gelde hinterließ und das doch nur aus Honoraren bestand.
Die politische Gesinnung von Dickens war von jeher eine radikale gewesen, d. h. was die Engländer darunter verstehen: er suchte eine Partei, die sich gleich unabhängig von den Tories wie von den Whigs, hauptsächlich mit den Interessen der notleidenden Klassen beschäftigte. Sein Haß gegen das Manchestertum stammt von Carlyle her. Aber über das, was geschehen sollte, war er sich ebensowenig klar wie sein Vorbild; er suchte nur zu zeigen, daß die Lösung in keiner Weise befriedigen könne, die man bisher gefunden zu haben glaubte. Wenn er von politischen Grundsätzen im allgemeinen spricht, ist er ziemlich unbedeutend in dem, was er heranzubringen weiß. Dagegen hat er, wie ich schon oben bemerkte, auf bestimmte Schäden der Londoner Gesellschaft sehr nachdrücklich hingewiesen und zu ihrer Abhilfe in vielen Punkten beigetragen; ja es ließe sich wohl im einzelnen leicht nachweisen, welche bestimmten Reformen aus den oder jenen seiner Romane zurückzuführen sind. Man erinnere sich der Schuldgefängnisse in den Pickwickiern, in Copperfield und in Klein-Dorrit, man denke an die Satire auf die Kirchspielsverwaltung in Oliver Twist, man vergegenwärtige sich wieder das Verfahren des Kanzleigerichtshofes in Bleak House.
Was hier auch in künstlerischer Hinsicht getadelt werden muß, z. B. die Einseitigkeit und Übertreibung, sowie das Abstrakte in der Zeichnung der tadelnswerten Charaktere, das wird reichlich wettgemacht durch die praktische Wirkung seiner Schriften, die sich noch im heutigen England bemerkbar macht, nämlich das rühmenswerte Bestreben, das Los der Armen und Enterbten nach besten Kräften zu erleichtern. Nicht frei von den soeben erwähnten Mängeln ist auch Humphrys Clock, ein 1842 veröffentlichter Roman, der überhaupt an Längen und Unklarheiten leidet, aber als Ersatz einige der ergreifendsten Szenen bietet, die dem liebenswürdigen Novellisten jemals glückten. Vor allem müssen wir hier der berühmten Figur der Kleinen Nell gedenken, die schon damals zahllose Leser in Tränen auflöste und sogar den greisen Kritiker Lord Jeffrey zu dem Ausruf hinriß, daß seit Cordelia keine so rührende Gestalt gezeichnet worden sei!
So war denn auch der pekuniäre Erfolg gerade dieses Romans ein ganz beispielloser; außerdem wurde der junge Verfasser von der schottischen Nation als Ehrengast eingeladen und in Edinburg auf einem öffentlichen Festmahl gefeiert, so daß er mit einem Schlage eine europäische Berühmtheit wurde. Natürlich wollte, wie schon damals und noch heute, Amerika nicht zurückbleiben und lud den Dichter gleichfalls ein, was Dickens, wie er nachher erfahren mußte, zu seinem Leidwesen annahm, da eine gegenseitige Entfremdung die Folge war.
Im Januar 1842 tritt er seine Reise nach Nordamerika an. Der Entschluß kam wie alle seine Entschlüsse plötzlich, ohne alle Vorbereitung, und er befand sich in dem gewöhnlichen Fieber, bis die der Ausführung entgegenstehenden Schwierigkeiten beseitigt waren. Die Frau begleitete ihn, die Kinder blieben bei einer befreundeten Familie zurück. Was er in Amerika erlebte und erfuhr, hat er in den American Note's und im Martin Chuzzlewit so vollständig beschrieben, daß den Briefen nur eine dürftige Nachlese übrigblieb, die sich in der Hauptsache auf die Aufzählung der festlichen Gastmähler beschränkt. Aber wir erfahren etwas gründlicher, was ihn damals verstimmte: wenn man ihn in der Gesellschaft seinem eigenen Urteile nach so glänzend empfing wie vorher nur Lafayette, so wurde er dagegen im Privatverkehre »unerhört begaunert«.
Ferner mußte er auf Schritt und Tritt Rede stehen, was er über die Sklaverei denke, und da konnte er natürlich mit seinem gerechten Zorn nicht zurückhalten, sondern machte seiner Entrüstung darüber ungescheut Luft. Endlich hatte er gehofft, es durch seinen persönlichen Einfluß dahin zu bringen, daß ein Gesetz gegen den unberechtigten Nachdruck englischer Bücher erlassen würde, und damit fand er nirgend auch nicht den geringsten Anklang. Seine gründliche Verachtung gegen dies amerikanische Piratentum und gegen fast alle Einrichtungen des großen Staatswesens, sowie seinen Widerwillen gegen die Amerikaner an sich, gegen ihr Menschentum, ihren Snobismus, ihren teils recht verlogenen Lebenswandel und ihren ekelhaften Geschäftsgeist legte er in den erwähnten Noten zur allgemeinen Zirkulierung (1842) und in Martin Chuzzlewit (1843) nieder. Letzterer Roman enthält die wütendsten Ergüsse seiner ausfallenden Satire und die bissigsten Übertreibungen in der Karikierung seiner Personen, z. B. des Architekten Pecksniff und der Hebeamme Mrs. Gamp mit ihrem Idol Mrs. Harris. Es ist wohl das bitterste, was überhaupt gegen das Erblaster des heuchlerischen Cant geschrieben worden ist, und Mr. Pecksniff kann sich sehr gut neben Molières Tartuffe behaupten. Allerdings sah er bei seinem scharfen Auge und seiner blühenden Phantasie alles greller, als es in Wirklichkeit war, und vergebens widerrieten ihm gute Freunde den allzu lebhaften Ausdruck seines Widerwillens. In solchen Dingen war ihm aber schwer beizukommen. Das einzige, was sie erreichten, war die Unterdrückung des geplanten Mottos zu den Noten: »Auf eine Frage des Richters bemerkte der Bank-Advokat, diese Sorten Noten zirkulierten am allgemeinsten in den Ländern, wo sie gestohlen und gefälscht seien. Gerichtsverhandlungen in Old Bailey.« Jedenfalls muß man seine obenerwähnte Verstimmung in Anschlag bringen, um die übrigens glänzend hingemalten Bilder von den amerikanischen Zuständen richtig zu würdigen.
Nach der Rückkehr aus Nordamerika ließ sich Dickens auf zwei Dinge ein, die für sein späteres Leben nicht ohne Folgen blieben: er gründete eine Zeitung, zu deren Leitung er doch nicht der berufene Mann war, und er nahm seine jüngere Schwägerin Georgine zu sich, die ihm, ebenso wie vorher Mary, in geistiger Beziehung bald bedeutend näher trat als seine Frau.
In das Jahr 1844 fällt ein längerer Aufenthalt in Italien, Ende Juni 1845 landete er wieder in England, um schon ein Jahr darauf, am 30. Mai 1846, abermals England zu verlassen. Er reiste über Ostende, Verviers, Coblenz, Mannheim, Straßburg und Basel in die Schweiz, wo er einige Zeit in Lausanne verblieb, dann in Genf der Revolution (Aufstand gegen die Jesuiten) beiwohnte und dort am 9. November seinen Dombey abschloß. Hierauf fuhr er in fünf Tagen mit drei Wagen (einer für die Kinder, einer für das Gepäck und der dritte für ihn und seine Frau) nach Paris, wo er zu dreimonatigem Aufenthalte am 20. November eintraf.
Es ist bemerkenswert, wie in Beziehung auf diese verschiedenen Reisen die Stimmung bei ihm wechselt. Ihm liegt daran, seiner selbst und seiner Arbeit wegen, einen ruhigen, abgelegenen Aufenthaltsort zu finden, wie in Lausanne, aber dann ergreift ihn plötzlich wieder die alte Unrast: es fehlt ihm der Londoner Straßenlärm, und ohne diesen Faktor fühlt sich die Schwinge seiner Phantasie gelähmt. »Meine Figuren«, sagt er einmal von sich selber, »kommen ins Schwanken, sobald sie nicht eine Masse Volks um sich haben.« Man sieht, der gewiegte Menschenschilderer versteht auch sich selbst zu beobachten; denn da ihm für eine ruhige einfache Erzählung in der Tat die nötige Stimmung fehlt, so muß man diese Bemerkung über seine Schaffensart als durchaus treffend bezeichnen. Und an einer anderen Stelle berichtet er, wie ihn selbst nachts der Gedanke beunruhigt, daß er nicht in einer Londoner Straße herumlaufen könne, wenn ihn gerade die Lust dazu anwandle. »Ich werde meine Gespenster nicht los, wenn ich mich nicht in einem Volksgedränge bewegen kann.«
Hierbei ist hauptsächlich in Betracht zu ziehen, daß er seiner Phantasie, obgleich sie vieles vertrug, allzu Starkes zumutete, indem er gleichzeitig verschiedene Romane anfing, und er sich infolgedessen fortwährend aus dem einen Milieu ins andere hineinleben und umstimmen mußte. Und das erträgt auf die Dauer kaum die willigste und ergiebigste Einbildungskraft.
Bei seinem bereits erwähnten längeren Aufenthalte in