David Copperfield. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.daß er da hinfiel, wo er stand. Sie bemühte sich dann, ihn nach dem Sofa zu führen, aber nach einem kurzen Kampfe sank er schwer auf seine linke Seite nieder. »Auf dem Boden«, waren die letzten Worte, die er sprach. Es war jetzt etwas mehr als zehn Minuten nach sechs Uhr. Seine beiden Töchter kamen noch an demselben Abend mit Mr. Beard, an den man auch telegraphiert hatte und den sie an der Station trafen. Sein ältester Sohn traf in der Frühe des nächsten Morgens ein, und am Abend folgte ihm (zu spät) sein jüngerer Sohn aus Cambridge. Alle mögliche ärztliche Hilfe war herbeigerufen worden. Der Arzt aus der Nachbarschaft war von Anfang an da, und außer Mr. Beard war noch ein anderer Arzt aus London eingetroffen. Aber alle menschliche Hilfe war vergeblich. Es hatte ein Bluterguß ins Gehirn stattgefunden, und obgleich ein röchelndes Atmen noch die ganze Nacht hindurch und bis 10 Minuten nach 6 Uhr am Donnerstag abend, den 9. Juni, fortdauerte, war während der vierundzwanzig Stunden nie ein Hoffnungsstrahl aufgedämmert. Er hatte ein Alter von 58 Jahren und 4 Monaten erreichte
Carlyle, der ihm bis zuletzt am nächsten gestanden hatte, schrieb: »Ich kenne ihn nun seit fast dreißig Jahren. Bei jedem neuen Zusammensein trat mir immer deutlicher der selten und große Wert dieses Menschenbruders entgegen, bis er mir zuletzt so nahe stand wie kein anderer Mann unserer Zeit. Ein herzlicher, aufrichtiger, klar blickender, ruhig entschiedener, gerechter und liebender Mann. Sein Tod ist ein Weltereignis: ein Unikum von Talenten plötzlich erloschen; mit ihm scheint die harmlose Fröhlichkeit der Nationen plötzlich verdunkelt. Der gute, freundliche, hochbegabte, edle Dickens; jeder Zoll an ihm ein anständiger Mann!« Und Julian Schmidt setzt hinzu: »Dieses Zeugnis eines würdigen Mannes muß man zu den Schilderungen Forsters hinzufügen, damit das Bild nicht schielend werde: was im Charakter von Dickens Unbefriedigendes bleibt, hängt aufs engste mit der Größe seiner Gaben zusammen und ruft mehr unser Mitleid als unseren Tadel hervor.«
Die Aufregung und der Schmerz bei seinem Tode sind noch in frischer Erinnerung der älteren Generation. Ehe die Nachricht auch nur die abgelegeneren Teile Englands erreichte, war sie schon über Europa hingeblitzt, war sie bekannt in den fernen Kontinenten von Indien, Australien und Amerika, und hatte nicht nur unter englisch redenden Völkern, sondern in jedem Lande der zivilisierten Erde Schmerz und Sympathie erweckt. In seinem eigenen Vaterlande war es, als wäre ein jeder von einem persönlichen Verluste betroffen worden. Die Königin telegraphierte aus Balmoral »ihr tiefstes Bedauern über die traurige Nachricht von Charles Dickens Tode«, und dies war die Empfindung aller Klassen ihres Volkes. Es gab keine englische Zeitung, die ihr nicht einen rührenden und edeln Ausdruck verlieh, und die Times war es, die zuerst die Ansicht aussprach, daß die einzig passende Ruhestätte für die Reste eines von dem englischen Volke so geliebten Mannes die Abtei sei, in der die berühmtesten Engländer bestattet sind.
Der Dekan von Westminster verlor keine Zeit, dem auf diese Weise ausgesprochenen allgemeinen Wunsche ein bereitwilliges Gehör zu schenken und machte schon am Morgen des Tages, an dem jener Artikel erschien, der Familie und deren Vertretern eine entsprechende Mitteilung. Die öffentliche Huldigung eines Begräbnisses in der Abtei mußte versöhnt werden mit Dickens' eigenen Verordnungen, daß er still, ohne vorhergehende Ankündigung der Zeit und des Ortes und ohne Denkmal oder Erinnerungszeichen begraben werden wolle. Er hätte selbst am liebsten in dem kleinen Kirchhofe unter der Schloßmauer in Rochester geruht, oder in den kleinen Kirchen von Cobham oder Shorne; aber es fand sich, daß alle diese geschlossen seien, und man war schon auf den Wunsch des Dekans und des Kapitels von Rochester, ihn in ihrer Kathedrale zu bestatten, eingegangen, als die Bitte des Dekans von Westminster und die rücksichtsvolle Freundlichkeit seiner edeln Versicherung, daß kein anderes Zeremoniell stattfinden solle, als ein solches, das mit allen Erfordernissen eines Privatbegräbnisses im Einklang stehe, die Annahme dieses Anerbietens zu einer wohltuenden Pflicht machte. Die Stätte war bereits von dem Dekan ausgewählt worden, und vor Mittag, am folgenden Morgen, Dienstag, den 14. Juni, war, unter dem ausschließlichen Mitwissen derer, die an dem Begräbnis teilnahmen, alles vollendet. Die Feierlichkeit hatte nichts verloren durch ihre Einfachheit. Nichts so Großartiges oder Ergreifendes hätte sie begleiten können als die Stille und das Schweigen der gewaltigen Kathedrale. Dann, später am Tage und den ganzen folgenden Tag, kamen freiwillige Leidtragende in solchen Scharen, daß der Dekan um Erlaubnis bitten mußte, das Grab bis Donnerstag offen zu halten; aber auch nachdem es geschlossen war, hörten sie nicht auf zu kommen, und »während des ganzen Tages«, schrieb Doktor Stanley, »war ein beständiges Gedränge nach der Stätte hin und viele Blumen wurden von unbekannten Händen gestreut, viele Tränen von unbekannten Augen vergossen.« Er bezog sich darauf in der ergreifenden Leichenrede, die von ihm am Sonntag morgen, den 19. Juni, in der Abtei gehalten wurde, indem er hinwies auf die von neuem gestreuten frischen Blumen (wie sie noch immer gestreut werden im vierten Jahre nach Dickens' Tode), und sagte, daß »diese Stätte hinfort eine heilige sein werde, in der Alten wie in der Neuen Welt, als die Ruhestätte des Repräsentanten der Literatur, nicht dieser Insel allein, sondern aller derer, die in englischer Zunge reden.« Der darauf gelegte Stein trägt die Inschrift:
Charles Dickens.
Geboren den siebenten Februar 1812.
Gestorben den neunten Juni 1870.
Die höchsten Erinnerungen an die beiden Künste, die er liebte, umgeben ihn, wo er ruht. Ihm zunächst ist Richard Cumberland. Mrs. Pritchards Denkmal blickt auf ihn nieder und unmittelbar dahinter ist das David Garricks. Auch ist die entzückende Kunst des Schauspielers nicht würdiger vertreten als das edlere Genie des Autors. Dem Grabe gegenüber und zu seiner Linken und Rechten sind die Denkmäler Chaucers, Shakespeares und Drydens, der drei Unsterblichen, die am meisten getan haben, die Sprache zu schaffen und zu gestalten, der Charles Dickens einen andern unvergänglichen Namen gegeben hat.
Dies möge von den Lebensnachrichten des großen englischen Humoristen genügen. Dem Leser, der sich für ein ausführlicheres Bild von Charles Dickens interessiert, sei das fesselnd und liebevoll eingehende Werk empfohlen: Charles Dickens Leben. Von John Forster. Ins Deutsche übertragen von Friedrich Althaus. (Vom Verfasser autorisierte Übersetzung.) Drei Bände in Lex. 8° (391, 458 und 542 Seiten, mit Porträts und Abbildungen). Berlin 1872-1875 bei R. v. Decker. Die englische Ausgabe »Life of Dickens« (London 1871-1873, 3 Vol.) ist auch bei Tauchnitz erschienen; ebenda Briefe von Dickens in 3 Bänden, herausgegeben von John Forster.
David Copperfield. Einleitung des Herausgebers.
Der Ruhm von Dickens stand nie so hoch als zur Zeit der Vollendung von David Copperfield. Die Popularität, die dieses Buch von Anfang an errang, wuchs in einem Maße wie bei keinem vorhergehenden Werke, mit Ausnahme Pickwicks. Wenn das Talent nicht größer war als im Chuzzlewit, so übte der Gegenstand doch eine größere Anziehungskraft aus; die Begebenheiten waren mannigfaltiger, das Spiel der Charaktere freier, und außerdem herrschte eine, allerdings allgemeine und unbestimmte Vermutung, die das Interesse nicht wenig verschärft hatte, daß nämlich der Dichtung etwas aus dem Leben des Autors zugrunde liege. Aus seinem handschriftlichen Nachlasse hat sich nun einerseits ergeben, daß in David Copperfield allerdings Wahrheit und Dichtung eng miteinander verflochten sind, anderseits aber zugleich, daß man mit der Identifizierung von Dickens mit David Copperfield früher viel zu weit gegangen ist. Die Lebensgeschichte des Dichters deckt sich mit der des David Copperfield nicht weiter als die traurigen Hungerford-Szenen reichen! Hier ist nun freilich die interessante Tatsache zu verzeichnen, daß Dickens lange vor der Konzeption des David Copperfield seine Autobiographie zu schreiben begonnen hatte, und daß er das Bruchstück, das von seinen mit Bob Fagin und Paul Green verlebten Jahren handelte, ohne wesentliche Änderungen dem Romane einverleibte. Alles, was über diese Episode hinausgeht, ist nicht Autobiographie, sondern eitel Fiktion. Besonders irrig ist es, in dem Charakter des David Copperfield den von Dickens suchen zu wollen, man müßte denn beide nach Analogie des Satzes einander nahe bringen wollen, daß sich die Gegensätze berühren.
Hat nun auch das Bekanntwerden der wirklichen Dickensschen Lebensgeschichte auf der einen Seite dazu beigetragen, unsern Roman eines guten Teils seines autobiographischen Reizes zu entkleiden, so hat es doch auf der andren Seite zugleich das