TAG DER ABRECHNUNG (Shadow Warriors 2). Stephen England
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Er musste es wissen. Beide Männer hatten ihre Kindheit im Libanon verbracht und waren während des blutigen Bürgerkriegs immer wieder gezwungen gewesen, Kugeln und Autobomben aus dem Weg zu gehen.
»Vielleicht war es ja eine von unseren. Inschallah.«
Wenn es Allahs Wille ist.
»Du solltest nicht so reden«, begann Nasir und sah seinen Bruder an. »Wenn die falschen Leute dich so hören …«
Sein älterer Bruder schnaubte und griff nach einer Jacke. »Bring eine Palette Mountain Dew aus dem Laden mit, wenn du nachher gehst, okay? Wir haben fast keine mehr.«
Er hatte ihn ignoriert. Aber das war zumindest besser als Jamals übliche Tiraden.
»Wann wirst du zurück sein?«
»Ich habe bis Nachmittag Unterricht und werde dann noch in der Moschee sein. Ich weiß es wirklich nicht.«
»Ich sollte mit der Tour gegen fünf fertig sein.« Nasir nickte, zog die letzte Tasse aus dem Wasser und legte sie zum Abtropfen auf das Gestell. Er verbrachte seine Arbeitstage hinten auf einem Müllfahrzeug, was ihn immer wieder daran erinnerte, dass er sich im Gegensatz zu seinem Bruder illegal in den Vereinigten Staaten aufhielt.
Wenn er ein Studentenvisum bekommen hätte, wären die Dinge anders verlaufen. Sehr viele Dinge.
Er hörte, wie sich die Wohnungstür hinter Jamal schloss, und seufzte. Irgendetwas ging in der Moschee vor sich, und das schon seit ein paar Monaten. Und sein Bruder veränderte sich. Dieses Land hatte irgendetwas mit ihm gemacht.
Diese Vereinigten Staaten.
Nasir murmelte etwas Gotteslästerliches vor sich hin, wusch sich die Hände, griff nach seiner Jacke und lief ebenfalls zur Tür. Es würde ein kalter Dezembertag in Michigan werden.
08:13 Uhr Ortszeit
CIA-Hauptquartier
Langley, Virginia
Auf seinem Weg von einer Sektion des Gebäudes zur nächsten zeigte Harry dem Wachposten im Durchgang seinen Sicherheitsausweis und wurde ohne genauere Prüfung hindurchgewunken. Selbst an einem Tag wie diesem.
Aber das war auch nicht weiter verwunderlich. Er hatte die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens hier gearbeitet.
Er bog um die Ecke, beschleunigte, und seine Schritte hallten wie das Geräusch von aneinandergeschlagenen Händen durch den weißgetünchten Korridor, den er entlang eilte. Ein Todesmarsch.
Nur noch ein paar Meter. Trotz der Kühle in dem Gebäude schwitzten seine Hände. In all den Jahren hatte er nie etwas Ähnliches versucht.
Dabei machte er sich keine Illusionen. Er wusste, dass seine Taten nicht unbemerkt bleiben würden. An der Tür vor A-13 angekommen, sprach er den wachhabenden Sicherheitsoffizier an, einen Mann namens Kauffman.
»Alles in Ordnung?«
Dessen Antwort bestand aus einem knappen Nicken. »Ron sagte bereits, dass Sie auf dem Weg sind.« Der große, muskulöse Mann Ende vierzig, durch dessen blondes Haar sich die ersten grauen Strähnen zogen, war schon so lange Teil des Langley-Sicherheitspersonals gewesen, wie Harry sich entsinnen konnte. Ex-Militär – niemand, mit dem zu spaßen war.
Sein Gesichtsausdruck entspannte sich etwas, als er sich umdrehte, um seine Ausweiskarte über den Scanner an der Tür zu ziehen. »Versuchen Sie, es kurz zu machen, Harry. Sie musste heute Morgen schon durch die Hölle gehen.«
»Ich verstehe«, erwiderte Harry mit einem grimmigen Lächeln und griff nach dem Türknauf.
Eines war sicher. Wenn er wieder aus dieser Tür trat, würde er auf der Flucht sein.
Tot. Es schien beinahe unbegreiflich. Dass sie ihn nach so langer Zeit wieder verlieren würde. Nach einer Kindheit, die sie damit verbracht hatte, sich nach seiner Gegenwart zu sehnen, und einer Jugend, die sie den Sog des fehlenden Elternteils spüren ließ. Der bittersüße Schmerz bei ihrem Wiedersehen.
All das war jetzt vergangen. War vergebens gewesen.
Ein elektronisches Piepen signalisierte das Öffnen der Tür und Carol fuhr sich mit der Hand über ihre Augen und wischte verärgert die Tränen fort. Als sie die Hand wieder von ihrem Gesicht nahm, war diese mit Mascara verwischt, der sich in ihrer Trauer aufgelöst hatte.
Es kümmerte sie nicht mehr.
Mit einem unheilvollen Klick schloss sich die schalldichte Tür hinter Harry. Er drehte sich um und zwang sich, all seine Emotionen beiseitezuschieben. Ruhig. Werde zum Auge des Sturms.
Sein Blick huschte durch den Raum, eine Abschätzung der Gefahrenlage. Zwei Wachleute waren bei Carol, beide bewaffnet. Lopez und Hendricks, wurde ihm klar, als er die beiden wiedererkannte.
»Morgen«, begrüßte er sie mit einem Nicken, während er an ihnen vorbei den Raum betrat.
Hendricks schenkte ihm ein knappes Lächeln. »Morgen, Harry.«
»Ron sagte, Sie benötigen Informationen über Korsakov«, brachte Carol hervor und sah zu dem NCS-Teamführer auf, der zu ihrem Tisch gelaufen kam und dabei in sein Jackett griff. »Ist er dafür verantwortlich?«
Er schien zu zögern, etwas Ungewöhnliches lag in seinem Blick. Er sah von ihr zu Lopez, dem ranghöchsten Sicherheitsoffizier. »Ich fürchte, diese Unterhaltung liegt einiges über Ihrer Gehaltsstufe. Könnten wir den Raum allein haben?«
Lopez deutete mit dem Kopf auf das Fenster, welches eine Wand des Vernehmungsraums bedeckte. »Wir warten auf der anderen Seite.«
Es verlief nicht so wie geplant – aber Pläne mussten geändert werden, um sich an ungewisse Situationen anpassen zu können.
»Sorgen Sie dafür, dass die Mikrofone abgeschaltet sind.«
»Verstanden.« Er wartete, bis sich die Tür hinter den beiden Männern geschlossen hatte, bevor er sich, die Hände auf den Tisch gestemmt, zu ihr beugte. »Es geht nicht um Korsakov – sondern um Ihren Vater. Er hat mich geschickt.«
Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. Kummer flackerte in ihren Augen. »Mein Vater ist tot.«
Und er war mein Freund, dachte er, doch das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Oder der richtige Ort. »Ich weiß«, antwortete er mit Blick auf das Fenster, von dessen Einwegglas aus ihn sein Spiegelbild ansah. »Und er glaubt, dass Sie als nächstes an der Reihe sind. Ich muss Sie hier rausschaffen.«
Sie sah ihn ungläubig an, aber er hatte ihre Aufmerksamkeit gewonnen. »Wir befinden uns unter dem CIA-Hauptquartier, Harry. Shapiro hat Personenschutz für mich angeordnet. Sicherer geht es nicht.«
»Ihr Vater genoss den gleichen Schutz der Agency.« Diese Anmerkung war so rücksichtslos wie nötig. »Das Böse lauert in den höchsten Positionen in Langley, lauteten seine Worte. Wir müssen verschwinden.«
Sie hob den Kopf und er konnte den gleichen herausfordernden Blick wie bei ihrem Vater in ihren blauen Augen funkeln sehen. »Nein, das muss ich nicht. Die Männer, die ihn getötet haben, sind immer noch da draußen. Meine Aufgabe ist es, sie zu finden. Und das werde ich auch.«
»Nicht, wenn die Sie zuerst finden.«
08:16 Uhr
NCS-Einsatzzentrale
Der Trick, stocknüchtern zu wirken, lag darin, nicht zu viel Zeit in Gegenwart anderer Personen zu verbringen. Thomas fuhr mit seiner Karte über die Tür und zog sein Jackett in Form, als er die Einsatzzentrale betrat. Die Show konnte beginnen.
Harrys Arbeitsplatz war unerwarteterweise verlassen und Thomas erkundigte sich bei dem vorbeilaufenden Daniel Lasker nach ihm.
»Harry ist unten