TAG DER ABRECHNUNG (Shadow Warriors 2). Stephen England

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TAG DER ABRECHNUNG (Shadow Warriors 2) - Stephen England


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       Culpeper, Virginia

      In der mittleren Schublade der Kommode im Schlafzimmer befand sich ein Adressbuch. Die dritte Seite darin enthielt eine Reihe von Nummern. Keine Namen, nur Nummern. Aber das spielte keine Rolle – er hatte sich die dazugehörigen Namen schon vor langer Zeit eingeprägt.

      Harry nahm ein Prepaid-Handy zur Hand und begann die vierte Nummer von unten einzugeben. Das Telefon hatte er erst vor fünf Minuten aktiviert, trotzdem würde es das Beste sein, den Anruf kurzzuhalten.

      Er drückte auf die Anruftaste und hörte, wie es klingelte. Einmal, zweimal. Er warf einen Blick auf die geschlossene Badezimmertür hinter sich. Carol zog sich gerade an.

      Sie mussten verschwinden. Beim vierten Klingeln wurde der Anruf angenommen, von einer Frau mit einem deutlichen jamaikanischen Akzent. »Hallo?«

      Harry gestattete sich ein schmales Lächeln. »Du bist so vorsichtig wie eh und je, Rhoda. Hast nichts vergessen, oder?«

      »Weshalb rufst du an?«, erkundigte sich die Frau, die ihre Worte mit einem französischen Akzent betonte. »Dein Name steht auf der Fahndungsliste der Polizei – und sie sind bereits dabei, ein Suchraster über den Norden Virginias auszubreiten.«

      »Wenn du das weißt, dann weißt du auch, wieso ich anrufe.«

      Eine lange Pause. »Ich bin gut in dem, was ich tue. Aber ich kann nicht zaubern, Harry. Wirklich nicht. Alles Voodoo dieser Welt könnte dir jetzt nicht mehr den Arsch retten. Was hast du angestellt, um diese Reaktion auszulösen?«

      »Nicht übers Telefon. Das weißt du«, antwortete Harry und räusperte sich. »Hast du die Sache in Kingston vergessen?«

      Wieder eine Pause, dann seufzte die Frau. Ein langes, schweres Seufzen der Resignation. »Nein. Habe ich nicht. Um welche Zeit ist mit dir zu rechnen?«

      »Wir werden in einer Stunde bei dir auf der Matte stehen«, antwortete Harry, dann klappte er das Telefon zu. Der alte Hollywood-Mythos vom einsamen Agenten war genau das – ein Mythos. Niemand überlebte da draußen ohne ein entsprechendes Netzwerk. Vielmehr ging es darum, alles Nötige zu unternehmen, um es zu aktivieren. Manchmal bedeutete das, ein paar Gefallen einzufordern oder ein paar Leuten auf die Füße zu treten.

       11:32 Uhr Ortszeit

       Dearborn, Michigan

      Es gehörte zu einer der vielleicht größten Ironien der Stadt Dearborn, dass sich in dieser Stadt, die früher einmal die Heimat so vieler Angestellter der Automobilbranche Amerikas gewesen war, die meisten der nun hier lebenden Bewohner auf öffentliche Verkehrsmittel verließen, die von der Bundesregierung subventioniert wurden.

      Aber es half, die Stauproblematik in den Griff zu bekommen. Der schwarze Mann schnaubte verächtlich, als er einen Blick in den Rückspiegel warf und nach der Polizei Ausschau hielt. Wie sind die Helden doch gefallen!

      Mittlerweile subventionierte die Staats- und Landesregierung beinahe den gesamten Polizeiapparat von Dearborn. Ihnen blieb auch kaum eine andere Wahl – denn man konnte darauf wetten, dass die eine Hälfte der Stadtbewohner noch nicht einmal genug verdiente, um Steuern zahlen zu müssen, und die andere Hälfte kein Interesse an Polizeikräften hatte.

      Abdul Aziz Omar gehörte fraglos der zweiten Kategorie an, besonders an einem Tag wie diesem.

      Er sah noch einmal in seinen Rückspiegel, um einen kurzen Blick auf seine Mitfahrer zu erhaschen? Ihre Namen kannte er nicht – aber den Mann in der Mitte, diesen jungen Mann mit dem verträumten, beinahe jenseitigen Blick kannte er als den Scheich.

      Was er hier in Dearborn tat, war ebenfalls ein Mysterium.

      Aber das würde sich alles schon zur rechten Zeit aufklären, dachte der schwarze Mann und griff nach seiner Thermoskanne mit Tee in der Mittelkonsole. Inschallah.

       12:34 Uhr Ortszeit

       U.S. Route 211

       Virginia

      Er hatte dieses Gefühl schon einmal verspürt – damals, als er einen Serienkiller durch fünf Bundesstaaten jagte, und bevor er sich der Anti-Terror-Division des Bureaus angeschlossen hatte. Das unerträgliche Gefühl, immer einen Schritt hinterherzuhinken, immer zu spät zu sein.

      Vic Caruso umrundete das hintere Ende des SUV und sah dort Marika Altmann stehen, die eine durchsichtige Plastiktüte gegen die Sonne hielt.

      »Schon Glück bei der Suche nach den Hülsen gehabt?«, fragte er und zog den Reißverschluss seines Mantels gegen den kühlen Wind zu.

      Altmann antwortete mit einem Kopfschütteln und legte die Tüte mit der verformten Kugel Kaliber .45 in die Kiste für die Beweismittel im Fußraum des Wagens zurück. »Wenn er bei der Agency ist, hat er wahrscheinlich seine Hülsen aufgesammelt. Der Typ ist gut.«

      »Das ist er«, antwortete Caruso leise. Seine Partnerin warf ihm einen scharfen, durchdringenden Blick zu.

      »Kennen Sie ihn?«

      »Gewissermaßen«, antwortete er und erwiderte ihren Blick. »Mitte September wurde ich damit beauftragt, die Ermittlungen in einem CIA-Informationsleck zu leiten. Er war eine der Zielpersonen.«

      »Und?«, hakte sie neugierig nach.

      »Und das ist eine lange Geschichte.« Das war es in der Tat, dachte Caruso und ließ seinen Blick über den Highway schweifen, wo kurz vorher noch die Leichen gelegen hatten. Er hatte in die Mündung jener 1911 Colt Kaliber .45 geblickt.

      Die Untersuchung war aufgeflogen, nachdem Nichols zurückgekehrt war und Caruso in seinem Haus dabei ertappt hatte, wie dieser seinen Computer durchsuchte. Er hatte den Tod in Nichols Augen gesehen und doch überlebt. Die beiden hier draußen auf dem Highway hatten nicht so viel Glück gehabt.

      »Was halten Sie von diesem russischen Einwanderer, dem Kerl, der laut unserer Einsatzbesprechung als der Bombenattentäter identifiziert wurde?«

      Die Frau antwortete zuerst nicht, ihr Gesicht auf seltsame Weise undurchdringlich, während sie auf die verschneite Landschaft starrte. Eine silbrig-goldene Haarsträhne entkam ihrer Baseballkappe und sie klemmte sie sich wieder hinters Ohr.

      »Ich denke, man lässt uns absichtlich im Dunklen tappen«, sagte sie schließlich mit einer Stimme so kalt wie der Wind, der um den SUV fegte. »Sie verschweigen uns etwas und füttern uns stattdessen mit dieser Hundescheiße.«

      Kapitel 4

       12:48 Uhr

       Graves Mill, Virginia

      Am furchteinflößendsten schien er ihr, wenn er schwieg. Carol betrachtete ihren Begleiter für einen weiteren langen Moment, dann sah sie aus dem Fenster des SUV, hinaus auf die schmutzig-braunen Schneehaufen, die am Straßenrand zusammengeschoben worden waren.

      Seit sie das Safehouse verlassen hatten, hatte er keine fünf zusammenhängenden Sätze gesprochen. Sie konnte noch immer seinen Gesichtsausdruck vor sich sehen, als er diesen Russen exekutierte – ein Blick bar jeglicher Emotion. Berechnend. Gnadenlos.

      Derselbe Blick, den er auch jetzt trug. Der Mann, der seinen Arm um sie gelegt und sie getröstet hatte, als sie gemeinsam auf dem Bett im Safehouse saßen, war verschwunden, ausgetauscht mit … ihm. »Was macht Sie so sicher, dass diese Frau uns helfen wird?«, fragte sie schließlich und musterte ihn dabei. Seine offene Lederjacke gab den Blick auf die Colt frei, die seitlich im Holster steckte. Eine Waffe wie der Mann selbst.

      »Weil ihr keine andere Wahl bleibt«, lautete die kryptische Antwort. »Wenn Sie genug Zeit im Einsatz verbracht haben, lernen Sie, dass die Menschen aus Angst Dinge tun, zu denen sie selbst aus Liebe nicht fähig wären.«

      Erpressung. Carol arbeitete lange genug in der Agency, um


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